
Prozess gegen Oppositionelle in Tunesien "Größte Ungerechtigkeit, die die Justiz erlebt hat"
In Tunesien müssen sich von heute an Oppositionelle vor Gericht verantworten - wegen angeblicher Umsturzpläne. Für Beobachter ist klar: Es ist ein weiterer Beweis für die autokratische Politik des Präsidenten.
Es war eine regelrechte Verhaftungswelle - im Februar 2023 brachten tunesische Sicherheitskräfte zahlreiche Menschen hinter Gitter. Unter Ihnen: Oppositionspolitiker, Journalisten, Anwälte. Der Vorwurf: Sie hätten einen Umsturz geplant.
Seit nunmehr über zwei Jahren also warten die Inhaftierten auf einen Gerichtstermin. Heute beginnt der Prozess gegen insgesamt vierzig Angeklagte. Unter ihnen auch der Ehemann der 58-jährigen Monia Brahim. Ihr Mann sei "zwangsinhaftiert", beklagt Brahim und macht die Justiz für seinen bedrohlichen Gesundheitszustand verantwortlich: "Der Krebs ist zurück, möge Gott ihn beschützen", sagt die Frau.
Für das politisch seit Langem aktive Ehepaar wiederholt sich die Geschichte: Schon unter Ex-Machthaber Ben Ali, den 2011 der Arabische Frühling aus dem Amt fegte, saß Abdelhamid Jelassi, Monia Brahims Ehemann, eben wegen politischen Engagements im Gefängnis. "Wir sind seit 34 Jahren verheiratet", erzählt Brahim. Mehr als die Hälfte dieser Zeit aber seien sie und ihr Mann wegen der Haftstrafen getrennt gewesen.
Vorwürfe: Umsturzpläne, Hochverrat, Verschwörung
Mit Abdelhamid Jelassi sind insgesamt 40 Menschen angeklagt. Wobei der Begriff "auf der Anklagebank sitzen" in diesem Fall nicht wirklich zutrifft. Die Beschuldigten werden nämlich nur per Video zugeschaltet. Und sollen so gar nicht erst die Chance bekommen, sich direkt im Gerichtssaal gegen die Vorwürfe verteidigen zu können.
Vorwürfe, die da lauten: Planung eines Umsturzes, Hochverrat, Verschwörung. Den Angeklagten wird also nichts weniger zur Last gelegt als der Versuch, das politische System aus den Angeln zu heben.
Von einem Prozess, der enorme Bedeutung hat, spricht die Anwältin Dalila Ben Mbarek Msaddek, die einige der aus ihrer Sicht zu Unrecht Beschuldigten vertritt. "Angesichts der Persönlichkeit der beteiligten Personen, angesichts der Bedeutung der Anschuldigungen ist dies nicht nur der größte Prozess in Tunesien, sondern auch die größte Ungerechtigkeit, die die tunesische Justiz erlebt hat."
Kritik von Amnesty International und den Vereinten Nationen
Auch mehrere Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International sprechen von einem Prozess wegen einer "Pseudo-Verschwörung". Die Quellen, die Beweislage, all das sei sehr fragwürdig. Und man müsse sich ja nur mal ansehen, wie lange einige der Angeklagten bereits ohne Verfahren im Gefängnis säßen, nämlich seit über zwei Jahren.
Auch die Vereinten Nationen meldeten sich zu Wort: Sie beklagen Zwangsverschleppungen - forced disappearances - und riefen erst Mitte Februar die tunesischen Behörden dazu auf, die "Verhaftungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen zu beenden."
Doch das lässt der tunesische Staat nicht auf sich sitzen. Er hält an der Anklage fest, denn, so heißt es in einer Reaktion auf die UNO, es seien tatsächlich Vorbereitungen für einen Bürgerkrieg und einen Umsturz getroffen worden. Außerdem verbittet man sich die Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten.
Keine unabhängige Justiz
Der tunesische Präsident, Kais Saied, hatte allen Richtern, die angebliche "Kriminelle" und "Terroristen" freiließen, einst gedroht, sie würden als deren Unterstützer betrachtet. Und hatte im Jahr 2022 Dutzende unliebsame Richter entlassen. "Seit dieser autokratischen Disziplinierung unterliegt die Justiz völlig der Kontrolle des Präsidenten", urteilt das Forschungsinstitut GIGA in einer Analyse.
Jedenfalls reiht sich dieser Prozess ein in eine lange Kette von Verfahren, die die tunesische Justiz in den vergangenen Jahren eröffnet hat. Auf der Anklagebank sitzen oft Oppositionelle, Aktivisten, Anwälte oder Journalisten, die sich kritisch äußern. Beobachter sehen darin den Beleg für eine zunehmend autokratische Politik des Präsidenten Kais Saied. Und den Versuch, seine Gegner zum Schweigen zu bringen.
Tunesien war einst Demokratie-Hoffnung
In Tunesien begann Ende 2010, Anfang 2011 der sogenannte Arabische Frühling. Das Land galt zeitweise aus europäischer Sicht als Hoffnungsträger auf der afrikanischen Seite des Mittelmeers. Doch der Ruhm verflog schnell. Kais Saied entmachtete - keine zwei Jahre nach seiner Wahl zum Präsidenten - im Sommer 2021 kurzerhand das Parlament, was einige als eine Art "Putsch von innen" bezeichnen. Und ging zuletzt auch verschärft gegen seine Gegner vor.
Die EU bringt er damit in eine Zwickmühle: Saied weiß, dass die Europäer auf Kooperation mit ihm angewiesen sind. Im Jahr 2023 schloss man ein Abkommen, das verhindern soll, dass Flüchtlinge sich in Boote setzen, um über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Auf der anderen Seite will sich die EU aber auch nicht vorwerfen lassen, angesichts der autokratischen Tendenzen in Tunesien beide Augen zuzudrücken.
Die vergangene Wahl, im Oktober 2024, gewann Saied laut offiziellen Angaben mit mehr als 90 Prozent der Stimmen. Allerdings lag die Wahlbeteiligung bei unter 30 Prozent. Ein deutliches Zeichen aus Sicht seiner Gegner.
Regierungsgegner in ständiger Angst
Auch Monia Brahim, deren Mann sich unter den nun Angeklagten befindet, setzte einst große Hoffnungen in den heutigen Präsidenten, feierte mit anderen auf den Straßen, als er 2019 gewählt wurde. Tyrannei, Ungerechtigkeit, Unterdrückung - all das sei Geschichte, habe sie einst gedacht, erzählt Brahim.
Doch das ist nun wieder anders: "Angst haben, dass nach einer Demo die Polizei wartet, dass nach einem Fernsehauftritt jemand an die Tür klopft - warum das alles?", fragt Brahim. Für sie und für ihren Mann sind die Unsicherheit und die Ungewissheit von einst zurückgekehrt.