Flugzeugunglück in Kasachstan Absturz oder Abschuss?
Wurde die Passagiermaschine der Azerbaijan Airlines in Kasachstan von der russischen Flugabwehr abgeschossen? Womöglich versehentlich? Die Ermittlungen laufen. Was bislang bekannt ist.
Nach dem Absturz eines aserbaidschanischen Flugzeugs in Kasachstan mit 38 Toten und 29 Überlebenden dauern die Ermittlungen zur Ursache an. Derweil gibt es auch erste offizielle Äußerungen und viele Spekulationen um einen möglichen Abschuss der Maschine.
Was ist passiert?
Am Mittwoch war ein Passagierflugzeug vom Typ Embraer 190 in der Nähe der kasachischen Stadt Aktau abgestürzt. Die Maschine mit der Flugnummer J2-8243 war laut Fluggesellschaft auf dem Weg von Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, nach Grosny in der russischen Teilrepublik Tschetschenien. Doch sie wich weit vom Kurs ab, flog über das Kaspische Meer und verunglückte nahe der Stadt Aktau in Kasachstan - an der Ostküste des Kaspischen Meeres.
Videos zeigen, wie das Flugzeug aus geringer Höhe an der Küste des Kaspischen Meeres abstürzte, ohne den nahe gelegenen Flughafen in Aktau zu erreichen. Nach Berichten von Augenzeugen flog die Maschine zwei weite Kreise, ehe sie beim Versuch eines dritten Kreises auf dem Boden aufschlug.
Beim Aufprall ging das Flugzeug zum Teil in Flammen auf, wie Videos in sozialen Netzwerken zeigten. Fotos zufolge wurde das Heck weniger beschädigt. Aus diesem Wrackteil wurden nach Medienberichten überlebende Passagiere gerettet. Bug und Mittelteil wurden dagegen zerstört.
Warum wich das Flugzeug vom Kurs ab?
Der Chef der russischen Luftfahrtbehörde Rosawiazija, Dmitri Jadrow, bestätigte am Freitag erstmals, dass das Flugzeug aus Sicherheitsgründen nicht am geplanten Zielort Grosny landen konnte. "Die Situation an diesem Tag und während dieser Stunden im Bereich des Flughafens von Grosny war sehr kompliziert", so Jadrow. Ukrainische Kampfdrohnen seien zu diesem Zeitpunkt für "terroristische Angriffe auf die zivile Infrastruktur in den Gebieten Grosny und Wladikawkas" eingesetzt worden. Wegen dieser Gefahr seien keine Starts und Landungen in Grosny erlaubt gewesen.
Aserbaidschans Staatschef Ilham Aliyev hatte kurz nach dem Unglück noch erklärt, ihm lägen Informationen vor, wonach das Flugzeug wegen widriger Wetterverhältnisse zwischen Baku und Grosny den Kurs geändert und dann den Flughafen von Aktau angesteuert habe. Auch staatliche russische Nachrichtenagenturen hatten zunächst berichtet, der Flieger sei wegen Nebels in Grosny umgeleitet worden.
Auch das Szenario eines sogenannten Vogelschlags stand nach dem Absturz im Raum, ebenfalls aufgegriffen von der russischen Luftfahrtbehörde. Dieser habe zu einem Notfall an Bord geführt, wodurch sich die Piloten entschieden hätten, die Maschine umzuleiten. Die Fluggesellschaft Azerbaijan Airlines hatte ebenfalls zunächst angegeben, die Maschine sei mit einem Vogelschwarm kollidiert, diese Angabe jedoch später zurückgezogen.
Was führte zum Absturz?
Azerbaijan Airlines bleibt, was die Absturzursache betrifft, weiter zurückhaltend. Allerdings gab das Unternehmen unter Berufung auf vorläufige Ergebnisse der Untersuchungen bekannt, dass "externe physische und technische Störungen" zu dem Absturz geführt hätten.
Die aserbaidschanische Regierung sprach am Freitag ebenfalls von äußeren Einwirkungen auf das Flugzeug und brachte auch einen möglichen Waffeneinsatz ins Spiel. "Die Ermittlungen werden klären, mit welcher Art Waffe die Einwirkung von außen geschah", sagte Verkehrsminister Rashad Nabiyev nach Angaben der staatlichen aserbaidschanischen Nachrichtenagentur Azertag. Schäden am Wrack und Zeugenaussagen legten nahe, dass das Flugzeug von außen beschädigt worden sei. Dies sei über dem ursprünglichen Zielflughafen Grosny in Russland geschehen. "Demnach gab es ein Explosionsgeräusch außen, und dann wurde das Flugzeug von etwas getroffen."
Bergungstrupps hatten am Unglücksort bei Aktau an der Küste des Kaspischen Meeres in den Trümmern der Maschine die Flugschreiber geborgen. Ihre Auswertung sowie die Funksprüche sollen Ermittlern helfen, die Absturzursache zu klären.
Könnte die Maschine unter Beschuss geraten sein?
Einige Luftfahrt- und Militärexperten sagten, das Flugzeug könne versehentlich von russischen Luftabwehrsystemen getroffen worden sein, als es ein Gebiet im russischen Kaukasus überflog, aus dem ein ukrainischer Drohnenangriff gemeldet wurde. Ukrainische Drohnen haben bereits zuvor Grosny und andere Regionen im Nordkaukasus ins Visier genommen.
Löcher im Heck der Maschine könnten darauf hindeuten, dass sie unter Beschuss russischer Luftverteidigungssysteme geraten sein könnte. Der russische Blogger und Militärexperte Juri Podoljaka erklärte im Onlinedienst Telegram, die Löcher ähnelten den Schäden, die durch ein "Flugabwehrraketensystem" verursacht würden.
Bernard Legauffre, ehemaliger Experte der französischen Ermittlungs- und Analysebehörde für die Sicherheit der zivilen Luftfahrt (BEA), sagte der Nachrichtenagentur AFP, es gebe viele Schrapnell-Splitter am Wrack. Dieses Bild erinnere an die Boeing der Fluggesellschaft Malaysia Airlines, die 2014 auf dem Flug MH17 über der Ukraine von einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen worden war.
Ein Notfallspezialist mit einem Hund an der Absturzstelle in der Nähe der Stadt Aktau, Kasachstan.
Wie die Nachrichtenagentur Reuters meldet, sprechen auch mit den Ermittlungen in Aserbaidschan vertraute Personen von einem Beschuss durch die russische Flugabwehr. Das berichtet auch die türkische Nachrichtenagentur Anadolu unter Verweis auf ranghohe Staatsvertreter in Aserbaidschan. Das Flugzeug hatte ein Gebiet in Russland verlassen, das das russische Militär noch vor Kurzem gegen Angriffe ukrainischer Drohnen verteidigt hatte.
Aserbaidschanische Medien berichten, das Flugzeug sei ersten Ermittlungen zufolge beim Anflug auf Grosny vom Verteidigungssystem "Pantsir-S" getroffen worden. Die Kommunikationssysteme seien komplett gestört gewesen.
Auch die USA schließen einen Fehlschuss der russischen Flugabwehr als Ursache für den Absturz nicht aus. Erste Hinweise deuten laut einem US-Regierungsvertreter auf einen Abschuss hin, berichteten unter anderem die Sender CNN und ABC News. Sollten sich erste Anzeichen bestätigen, sei denkbar, dass schlecht ausgebildete russische Einheiten bei der Abwehr ukrainischer Drohnen das Ziel verwechselt hätten, sagte der Beamte demnach.
In Baku berief sich das Internetportal caliber.az ebenfalls auf nicht genannte Regierungsquellen. Demnach sei das Flugzeug am Mittwoch beim Anflug auf die russische Stadt Grosny von einer Flugabwehrrakete getroffen worden. Nach Angaben von caliber.az baten die Piloten um eine Notlandung in den nächstgelegenen russischen Flughäfen Mineralnye Wody oder Machatschkala. Dies sei nicht genehmigt worden, sodass die Crew das beschädigte Flugzeug über das Kaspische Meer hinweg nach Aktau in Kasachstan gesteuert habe.
Was sagt die russische Regierung?
Aus Russland selbst kamen bislang knapp gehaltene Stellungnahmen zu dem Unglück. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow wiederholte seine Warnung vor voreiligen Rückschlüssen. Die Spekulationen zur Absturzursache seien dem Kreml bekannt. Peskow forderte, die Ermittlungsergebnisse abzuwarten: "Eine Untersuchung dieses Flugzeugvorfalls ist im Gange. Und bis die Schlussfolgerungen der Untersuchung vorliegen, halten wir uns nicht für berechtigt, Urteile zu fällen - und werden dies auch nicht tun."
Peskow betonte, Ergebnisse könnten nur von den russischen Luftfahrtbehörden, die den Fall untersuchten, kommen. Allerdings ermitteln auch die kasachischen und die aserbaidschanischen Behörden zur Absturzursache.
Der russische Präsident Wladimir Putin äußerte sich nicht zum Absturz. Auch in russischen Medien wird über die Spekulationen, ein Fehler der landeseigenen Luftwaffe könne zum Absturz geführt haben, nicht berichtet.
Wer war an Bord?
An Bord der Maschine waren 67 Menschen, unter ihnen fünf Besatzungsmitglieder, von denen nach letzten Angaben drei ums Leben kamen.
An Bord waren kasachischen Behördenvertretern zufolge 42 aserbaidschanische Staatsbürger, 16 russische Staatsbürger, sechs Kasachen und drei Kirgisen. Zwei der überlebenden Passagiere kommen aus Deutschland, wie das Auswärtige Amt mitteilte. Unter den Verletzten sind zudem russische, aserbaidschanische und kirgisische Staatsangehörige.
Aserbaidschan gedachte der Opfer am Donnerstag mit einem Trauertag. Die Nationalflaggen wurden auf halbmast gesetzt, um die Mittagszeit ruhte für eine Schweigeminute im ganzen Land der Verkehr.
Azerbaijan Airline hat angekündigt, den verletzten Opfern sowie den Angehörigen der Verstorbenen eine Entschädigung zahlen zu wollen. In einer Mitteilung auf der Internetseite der Fluggesellschaft heißt es, jeder verletzte Passagier solle eine Summe von 20.000 Manats erhalten. Der Manat ist die aserbaidschanische Währung. Die Summe entspricht umgerechnet bei derzeitigem Wechselkurs fast 11.300 Euro.
Die Angehörigen der Passagiere, die durch den Absturz ums Leben kamen, sollen laut Airline 40.000 Manats bekommen, also fast 22.600 Euro.
Wie reagieren Fluggesellschaften?
Azerbaijan Airlines, zu der das abgestürzte Flugzeug gehörte, streicht ihre Verbindungen in zehn russische Städte. Von Samstag an sollen Sotschi, Wolgograd, Ufa, Samara, Mineralnye Wody, Grosny, Machatschkala, Wladikawkas, Nischni Nowgorod und Saratow vorerst nicht mehr angeflogen werden. Die Flughäfen in Moskau, St. Petersburg, Kasan, Astrachan, Jekaterinburg und Nowosibirsk sollen hingegen weiter angesteuert werden.
Zuvor hatte bereits die israelische Fluggesellschaft El Al angekündigt, alle Flugverbindungen zwischen Tel Aviv und Moskau bis vorerst Ende der Woche auszusetzen. Die Airline begründete den Schritt mit den "Entwicklungen im russischen Luftraum". Sie werde kommende Woche neu beurteilen und entscheiden, ob die Flüge wieder aufgenommen würden.
In Kasachstan setzte die Fluggesellschaft Qazaq Air für einen Monat aus Sicherheitsgründen Flüge von der Hauptstadt Astana in die russische Metropole Jekaterinburg am Ural aus. Flüge nach Omsk und Nowosibirsk in Sibirien gebe es aber weiter, hieß es. Die Fluglinie Flydubai strich nach eigenen Angaben Flüge aus Dubai zu zwei Destinationen im Süden Russlands.
Russland wiederum sperrte den Luftraum im Süden des Landes. Eine Maschine der Azerbaijan Airlines auf dem Weg in die südrussische Stadt Mineralnie sei daher nach Baku zurückgekehrt, berichtete die russische Nachrichtenagentur Tass.