Ein israelischer Soldaten liegt im Gazastreifen mit einem Gewehr auf dem Bauch bei einem Kampfpanzer
interview

Lage im Gazastreifen "Konflikt wird länger dauern als dieser Winter"

Stand: 06.11.2023 16:15 Uhr

Die Aufteilung des Gazastreifens soll verhindern, dass Hamas-Terroristen in den Süden fliehen können, sagt der Militärexperte Gressel. Im Interview erklärt er, was das für die Zivilbevölkerung bedeutet und wie lange der Krieg dauern könnte.

tagesschau24: Der Gazastreifen ist laut israelischer Armee ab sofort in zwei Bereiche geteilt. Welchen Sinn hat die Teilung in Nord und Süd für die israelische Armee?

Gustav Gressel: Das Schwergewicht der Infrastruktur der Hamas wird im Norden vermutet, also in Gaza-Stadt. Die israelische Armee hat jetzt den Gazastreifen zweigeteilt, damit sie ein Ausweichen zumindest der Hamas-Infrastruktur behindern kann. Man will erstens die Infrastruktur zerstören, zweitens aber auch wichtige Kader, also Führungspersönlichkeiten, Techniker in den Waffenproduktionsanlagen, entweder töten oder gefangen nehmen, um sie später gegen Geiseln einzutauschen.

Man will die Geiseln, soweit möglich, befreien. Dazu ist es aus israelischer Sicht wichtig, dass man Flucht- und Absetzmanöver der Hamas und deren Spitzenpersonal beziehungsweise der Geiseln verhindert. Und deshalb hat man den Gazastreifen in zwei Teile geschnitten. Allerdings hat die israelische Armee dieses Manöver lange vorher angekündigt, und da stellt sich die Frage, gerade was das Personal anbetrifft, das mobiler als Infrastruktur ist, wie viele von denen nicht schon in den Süden entkommen sind?

"Die israelische Armee hat den Gazastreifen zweigeteilt", Gustav Gressel, Militärexperte am European Council on Foreign Relations

tagesschau24, 06.11.2023 14:00 Uhr

Flucht in den Süden wird noch schwieriger

tagesschau24: Wird es denn für Zivilisten jetzt einfacher, vom Norden in den Süden zu fliehen oder wird das schwieriger?

Gressel: Es war vor der Teilung schon schwierig. Es wird jetzt noch schwieriger, weil es im Grunde nur einen Korridor gibt, den die israelischen Streitkräfte kontrollieren. Die Hamas möchte das Absetzen von Zivilisten in den Süden verhindern, weil sie die Zivilisten als Schutzschilde braucht und sie in einem Umfeld, in dem es sowohl Zivilisten als auch Kämpfer an jeder Ecke gibt, ihre Art der Hinterhalt-Taktik besser durchführen kann.

Man hat auch vorher versucht, palästinensische Zivilisten daran zu hindern, sich in den Süden abzusetzen. Das gelingt jetzt aus Hamas-Sicht einfacher, wenn sie nur den Zugang zu diesem einen Korridor überwachen muss, den die israelische Armee für Zivilisten offen hält, während sich früher wahrscheinlich deutlich mehr palästinensische Zivilisten über kleine Straßen und Hinterhöfe absetzen konnten.

Gustav Gressel
Zur Person
Gustav Gressel ist Politikwissenschaftler und Militäranalytiker beim European Council On Foreign Affairs in Berlin.

"Hamas braucht für ihre Propaganda tote Zivilisten"

tagesschau24: Die bedrückenden Bilder, die wir sehen, sind Bilder von Ruinen in Gaza. Man kann sich nicht vorstellen, dass dort überhaupt noch Menschen leben. Was bringt es der israelischen Armee, so viele Häuser zu zerstören?

Gressel: Der Gazastreifen ist im Grunde ein großes urbanes Schlachtfeld. Es reihen sich dort Ortschaft an Ortschaft und Stadt an Stadt. In einem Ortskampf sind die Häuser vor allem für Infantrie eine Deckungs- und Bewegungsmöglichkeit. Man bewegt sich gedeckt gegen Drohnen oder Luftwaffe in und durch Häuserkorridore durch. Man hat dort gut ausgebaute Stellungen in den Keller- und Erdgeschossen und man hat gute Sichtmöglichkeiten von den Dächern. Das heißt, im Grunde ist es ein Stellungsraum.

Wenn man diesen Stellungsraum bekämpft, dann verwandelt das die Häuser in Ruinen. Das ist deshalb wichtig bei Ortskämpfen, weil man diese evakuieren würde, wenn man sie nach den kriegsvölkerrechtlichen Regeln führen würde. Die ukrainische Armee zum Beispiel evakuiert Ortschaften, bevor sie zum Schlachtfeld werden, damit keine Zivilisten mehr in den Gebäuden vorhanden sind. Bei der Hamas ist das Problem, dass sie das nicht nur nicht macht, sondern auch versucht, das zu unterbinden, weil sie für ihre Art der Propaganda tote Zivilisten braucht.

"Vormarsch geht nur langsam vonstatten"

tagesschau24: Schauen wir auf das Vorgehen der israelischen Truppen am Boden. Die Hamas operiert aus Tunneln. Wie geht die israelische Armee da vor?

Gressel: Sie geht langsam vor. Wie genau man die Tunnel lokalisiert, das bleibt ein Geheimnis. Allerdings hat sich die israelische Armee technisch auf ein solches Szenario durchaus vorbereitet. Man will die Tunnel unter den Häusern, die man einnimmt, aufspüren, dann auskundschaften, also Trupps hinunterschicken, um zu sehen, was in diesen Tunneln vorhanden ist, um sie im Anschluss dann zu sprengen.

Das ist eine sehr mühselige Arbeit, auch eine aufreibende Arbeit für Soldaten, die das tun. Und deshalb geht der Vormarsch der israelischen Streitkräfte, vor allen Dingen von Norden und Osten her, nur sehr langsam vonstatten, weil man Haus für Haus schaut, was im Keller alles verborgen ist, wo sich Tunnelanlagen befinden und dann, bevor man weiter rückt, diese Tunnelanlagen dementsprechend auskundschaftet.

"Noch nicht geklärt, was danach passiert"

tagesschau24: Die "Jerusalem Post" meldet heute, dass die israelische Armee Kampfausrüstung für den Winter verteilt hat. Heißt das, es wird noch ein langer Konflikt?

Gressel: Die erste militärische Operation, die die Zerschlagung und Verhaftungen von Hamas-Infrastruktur und -Führungspersonal zum Ziel hat, wird allein schon länger dauern. Wir sehen in den vergangenen Wochen den langsamen Fortschritt der israelischen Armee, die Haus um Haus und Block um Block vorgehen muss. Und dann ist noch nicht geklärt, was eigentlich danach passiert.

Welche Art von Verwaltung soll nach der Hamas in den Autonomiegebieten oder im Gazastreifen eingerichtet werden? Kann sich diese behaupten, wenn sie von Israel eingesetzt wird, beziehungsweise wie verhält sich dann die palästinensische Zivilbevölkerung? Das steht noch komplett in den Sternen. In diesem Sinn muss man davon ausgehen, dass dieser Konflikt weit länger dauert als nur dieser Winter.

Das Gespräch führte Michail Paweletz für tagesschau24.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 06. November 2023 um 14:00 Uhr.