Soldaten einer syrisch-kurdischen Militäreinheit

Kurden in Syrien Im Kampf gegen den IS alleingelassen

Stand: 26.07.2023 06:40 Uhr

Die Kurden im Norden Syriens fühlen sich im Kampf gegen den IS alleingelassen, auch bei der Rückführung ausländischer IS-Kämpfer. Tausende sind dort inhaftiert - unter international kritisierten Umständen. Nun soll es ein eigenes Tribunal geben.

Die Hände an der Waffe, die Augen wandern von links nach rechts. Wenn kurdische Soldaten durch die Gegend um Hasaka oder Rakka im Norden von Syrien patrouillieren, müssen sie äußerst wachsam sein.

Hinter jeder Ecke, in jedem verlassenen Haus könnten sich Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates (IS) verstecken.

Kampf gegen den IS in Nordsyrien

Simon Riesche, ARD Kairo, tagesschau, 25.07.2023 12:00 Uhr

Zahlreiche Operationen gegen IS

"Allein im vergangenen Monat haben wir 13 Anti-Terror-Operationen durchgeführt", sagt Farhad Shami, Sprecher der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), einem vor allem aus Kurden bestehenden Militärbündnis im Nordosten Syriens. Man habe "IS-Zellen aufgespürt und auseinandergenommen, bevor sie zuschlagen konnten".

"Islamischer Staat" - war da was? Die Terrormiliz gilt vielerorts als besiegt. Nicht nur, weil sie im Nahen und Mittleren Osten seit einigen Jahren kaum noch nennenswerte Gebiete kontrolliert, sondern auch, weil große Anschläge in Europa zuletzt ausblieben.

"Warten nur darauf, wieder loszuschlagen"

Deswegen aber zu glauben, dass der Kampf zu Ende ist, sei ein Trugschluss, sagen die Kurden in Syrien. In ihrem Land gebe es weiterhin Angriffe. Zudem würden tausende IS-Kämpfer und Sympathisanten im Untergrund nur darauf warten, wieder loszuschlagen. "Die internationale Gemeinschaft ruht sich auf ihren Erfolgen aus", kritisiert SDF-Sprecher Shami. "Leider unterstützen uns deswegen immer weniger Staaten wirksam im Krieg gegen den IS."

Der eigentliche Krieg ist das eine. Das andere Problem, bei dem sich die syrischen Kurden vom Rest der Welt alleingelassen fühlen, ist die Frage, was sie mit IS-Anhängern machen sollen, die sie aus Angst vor weiterer Gewalt in Gefängnissen und Lagern festhalten.

"Massenhafte, unbefristete und willkürliche Inhaftierung"

Viele der Inhaftierten haben schwere Kriegsverbrechen begangen. Andere aber waren nur Mitläufer oder sind überhaupt nur dort, weil Familienangehörige es so wollten. Allein im berüchtigten Camp Al-Hol sollen fast zwei Drittel der Insassen Kinder sein, die meisten davon unter zwölf Jahre alt.

Um einer Radikalisierung entgegenzuwirken, werden Jungen gegen ihren Willen von den kurdischen Behörden in sogenannte Rehabilitationszentren gesteckt, was Menschenrechtsaktivisten und internationale Beobachter fassungslos macht. "Die massenhafte, unbefristete und willkürliche Inhaftierung von Kindern, insbesondere Jungen" sei völlig inakzeptabel, so die irische UN-Sonderberichterstatterin Fionnuala Ní Aoláin am vergangenen Freitag bei einer Pressekonferenz in Genf.

Fünf Tage lang war sie zuvor im Nordosten Syriens von Lager zu Lager gereist, hatte dort aber offenbar nur wenige Einblicke bekommen. "Wir wissen überhaupt nicht, was in diesen Einrichtungen passiert. Die Aussage, dass hier internationales Recht gebrochen wird, ist wahrscheinlich die größte Untertreibung, die es gibt."

 

Kein internationales Tribunal

Auf Seiten der von Kurden dominierten Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES) kann man mit solchen Vorwürfen nicht viel anfangen. Man müsse die eigene Bevölkerung vor Terroristen schützen, heißt es. Außerdem habe man in den vergangenen Jahren ja versucht, ausländische Verbündete dazu zu bewegen, alle eigenen Staatsbürger aus den Gefängnissen in die Heimatländer zurückzuführen, damit ihnen dort ein Prozess gemacht werden könne.

"Die meisten europäischen und auch anderen Regierungen haben aber unsere Rufe nicht erwidert", so Hamdan al-Abd, stellvertretender Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der AANES. Auch bei der Frage, die Strafverfolgung gemeinsam zu organisieren, sei man im Stich gelassen worden. "Unsere Forderung war immer: Es muss ein internationales Tribunal für die Aufarbeitung der IS-Verbrechen geben, aber das wurde uns von der Weltgemeinschaft verwehrt". Es sei zu kompliziert und zu teuer.

"Jetzt wollen wir ein eigenes Tribunal ins Leben rufen, basierend auf lokalen Gesetzen", sagt der AANES-Vertreter. Wie das aber genau zu realisieren ist, bleibt unklar. Tausenden vermeintlichen oder tatsächlichen IS-Terroristen einen fairen Prozess zu machen, ist eine Jahrhundertaufgabe, die die lokalen Institutionen des Kurdengebietes, das sich weiterhin in einer Art Dauerkriegszustand mit dem Nachbarn Türkei befindet, auch mit ausländischer Hilfe logistisch kaum stemmen können. 

Wie das Auswärtige Amt reagiert

Die deutsche Bundesregierung hat die bereits im Juni erfolgte Ankündigung der Kurden, jetzt wirklich zeitnah ein eigenes Tribunal einrichten zu wollen, zur Kenntnis genommen. Von "großer Bedeutung" sei bei derartigen Verfahren die "Einhaltung internationaler Standards", so die schriftliche Stellungnahme des Auswärtigen Amtes. 

Auf die Frage, ob damit zu rechnen sei, dass vor einem solchen lokalen Tribunal deutschen Staatsbürgern die Todesstrafe drohe, heißt es: "Derzeit liegen keine Anhaltspunkte vor, dass bei derartigen Verfahren die Todesstrafe verhängt würde. Deutschland setzt sich weltweit gegen die Todesstrafe ein."

Wie viele Deutsche aktuell überhaupt noch in kurdischem Gewahrsam in Syrien sind? "Derzeit liegen Erkenntnisse zu einer niedrigen bis mittleren, zweistelligen Anzahl männlicher deutscher Staatsangehöriger vor", heißt es aus dem Auswärtigen Amt. "Eine niedrige einstelliger Zahl" befinde sich zudem im Nachbarland Irak in Haft.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 25. Juli 2023 um 12:00 Uhr.