Nach der Flucht Assads Islamisten versprechen geordneten Machtwechsel
Nach der Einnahme von Damaskus wollen die Islamisten offenbar Chaos verhindern. Der Ministerpräsident bleibt im Amt, öffentliche Gebäude sind Tabu für die Kämpfer. HTS-Chef Dscholani ist in der Stadt.
Jubelszenen in Damaskus: Nach der offenbar kampflosen Übernahme der Stadt durch ein von Islamisten angeführtes Rebellenbündnis feiern Zivilisten und bewaffnete Kämpfer im Zentrum der syrischen Hauptstadt. Bei den Feiernden ist die Erleichterung über die Flucht des langjährigen Machthabers Baschar al-Assad offensichtlich groß.
Der Anführer der islamistischen Gruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS), Abu Muhammad al-Dscholani, verhandelt nach übereinstimmenden Berichten bereits mit der Regierung über die Ausgestaltung des Machtwechsels. Ein von den Rebellen veröffentlichtes Video zeigt, wie bewaffnete Kämpfer einen telefonierenden Ministerpräsidenten Mohammed al-Dschalali abholen.
Staatliche Institutionen sollen weiterarbeiten
Die staatlichen Institutionen würden bis zu einer Machtübergabe von al-Dschalali beaufsichtigt, erklärte al-Dscholani. In der schriftlichen Erklärung, die er mit seinem bürgerlichen Namen Ahmed al-Scharaa unterzeichnete, ordnete er zudem an, dass sich militärische Kräfte öffentlichen Einrichtungen nicht nähern dürften und Schüsse in die Luft verboten seien. Vermutlich soll so ein Machtvakuum in Damaskus minimiert oder sogar verhindert werden.
Al-Dscholani präsentierte sich bereits während des schnellen Vorstoßes der Aufständischen seit Ende November betont gemäßigt. Bei einer Erklärung im syrischen Staatsfernsehen, in der sie die Flucht Assad verkündeten, trugen er und weitere Kämpfer Zivilkleidung.
Ministerpräsident al-Dschalali sprach sich im Fernsehsender Al-Arabija für freie Wahlen in Syrien aus, damit die Menschen über die Führung entscheiden können. Er bestätigte Gespräche mit al-Dscholani über eine Übergangsperiode.
Dschihadistenführer in Damaskus eingetroffen
HTS-Führer al-Dscholani traf nach Angaben der Kämpfer inzwischen in Damaskus ein. Er habe sich bei seiner Ankunft in der Hauptstadt "niedergekniet und den Boden geküsst", erklärte die HTS im Onlinedienst Telegram unter Verwendung seines bürgerlichen Namens Ahmed al-Scharaa. Dazu veröffentlichte sie Bilder, auf denen al-Dscholani beim Niederknien auf einer Rasenfläche zu sehen war.
In einer Mitteilung des syrischen Staatsfernsehen, dessen Kontrolle die Assad-Gegner übernommen haben, erklärte al-Dscholani, dass "unser Wille fest und unsere Entschlossenheit unerschütterlich" seien. Die HTS und ihre Verbündeten arbeiteten "weiterhin entschlossen daran, die Ziele unserer Revolution zu erreichen".
Die HTS verhängte indes eine Ausgangssperre bis Montagfrüh. Diese solle bis 5.00 Uhr Ortszeit (3.00 Uhr MEZ) gelten, kündigten sie im Onlinedienst Telegram an.
Häftlinge in Damaskus befreit
Die Islamisten kündigten zudem die Freilassung aller Häftlinge an. In Damaskus übernahmen sie schnell die Kontrolle über ein berüchtigtes Gefängnis und ließen die eingesperrten Menschen gehen. Das bestätigte auch die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, die in London ansässig ist. Diese teilte mit, die Türen des Gefängnisses seien für "Tausende Häftlinge" geöffnet worden, die "während der gesamten Herrschaft des Regimes" vom Sicherheitsapparat gefangen genommen worden seien.
Assad nach Moskau geflohen
Am frühen Morgen hatte die HTS die Einnahme der Hauptstadt Damaskus und die Flucht Assads gemeldet. "Der Tyrann Baschar al-Assad ist geflohen", teilten die Aufständischen mit. Dies sei der Moment, auf den die Vertriebenen und die Häftlinge lang gewartet hätten, "der Moment der Heimkehr und der Moment von Freiheit nach Jahrzehnten der Unterdrückung und des Leids".
Offenbar bereits vor einigen Tagen war Assads Familie nach Moskau ausgereist. Am frühen Sonntagmorgen floh auch der entmachtete Assad nach Russland. Ein Vertreter des Kremls teilte mit, das Land habe der Familie aus "humanitären Erwägungen" Asyl gewährt.
Diesen Moment haben sich Assad-Gegner lange herbeigesehnt: Aufständische laufen durch den Präsidentenpalast bei Damaskus.
Verwüstung von Palast und iranischer Botschaft
In den Präsidentenpalast Assads in Damaskus drangen Plünderer und Schaulustige ein. Eine Empfangshalle wurde in Brand gesetzt. Auch die einige Kilometer vom Präsidentenpalast entfernte Assad-Residenz wurde fast völlig leer geplündert. In den Räumen waren nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP nur noch wenige Möbelstücke, verstreute Akten und ein auf dem Boden liegendes Porträtgemälde des gestürzten Präsidenten zu sehen.
Auch die iranische Botschaft in Damaskus wurde verwüstet. Laut AFP luden Menschen aus geplünderten Büroräumen Gegenstände in vor der Botschaft stehende Lkw. Die Zeitung Tehran Times berichtete unter Berufung auf den iranischen Außenamtssprecher Esmaeil Baghaei, dass die Diplomaten die Botschaft in Damaskus verlassen hätten, bevor sie gestürmt worden sei.
Teile der Armee kämpfen offenbar weiter
Auch nach der Flucht von Assad scheint es Teile der Armee zu geben, die weiter gegen die Aufständischen kämpfen. Nach Darstellung der Streitkräfte dauern militärische Operationen gegen "terroristische Gruppen" um die Städte Hama, Homs und Daraa herum an. Die Bevölkerung solle wachsam sein und die Souveränität Syriens verteidigen.
Rebellengruppen rücken nach eigenen Angaben auch im Nordosten des Landes vor. Man habe Gebiete westlich der Stadt Dair as-Saur unter Kontrolle gebracht, sagten die Aufständischen bei einer Ansprache im syrischen Staatsfernsehen. Dieses Gebiet kontrollierten zuvor die syrischen Regierungstruppen mit verbündeten Milizen. Dair as-Saur liegt am Fluss Euphrat und entlang wichtiger Verkehrs- und Versorgungsrouten zwischen dem östlichen und zentralen Teil Syriens.
In den vergangenen Tagen hatten die Aufständischen die Einnahme vieler wichtiger Städte verkündet, es ist aber unklar, ob sie dort Kämpfer zur Verteidigung zurückließen. Zudem gibt es diverse Rebellengruppen mit teils unterschiedlichen oder sogar widersprüchlichen Zielen. Dies könnte sie militärisch schwächen.
Andererseits sollen auch viele Soldaten desertiert oder sogar mit Ausrüstung in Nachbarstaaten wie den Irak geflohen sein. Insgesamt bleibt die Situation unübersichtlich.
Neue Kämpfe seit vergangener Woche
Der Bürgerkrieg in Syrien hatte 2011 mit Protesten gegen die Regierung begonnen, die auf Assads Befehl brutal niedergeschlagen wurden. Daraufhin lehnten sich verschiedene Gruppen auf. Mehrere Staaten - darunter Russland, der Iran, die Türkei und die USA - mischten sich im Laufe der Jahre in den Krieg ein. Rund 14 Millionen Menschen wurden vertrieben. Nach UN-Schätzungen kamen bisher mehr als 300.000 Zivilisten ums Leben.