
Jugend im Westjordanland Leben im Ausnahmezustand
Seit den Terrorangriffen vom 7. Oktober 2023 hat sich auch die Lage im Westjordanland massiv verschärft. Wie blicken junge Palästinenser zwischen Checkpoints, Siedlerangriffen und Militäreinsätzen auf ihre Zukunft?
Im Nachbarort ruft der Muezzin, sonst ist es ganz ruhig in der felsigen Hügellandschaft im Norden von Ramallah. Genau deshalb kommt die 25-jährige Asia hierher. Gemeinsam mit anderen jungen Palästinenserinnen und Palästinensern geht sie hier klettern. "Das hilft mir, abzuschalten, die Realität unseres täglichen Lebens im Westjordanland mal zu vergessen", sagt Asia.
Klettern hier sei mehr als nur Sport, sagt auch ihre Freundin Zeina. "Wir leben in einem besetzten Land, sind nicht frei, immer in Gefahr, und das hier gibt mir das Gefühl von Freiheit."

Jugendliche klettern wie hier bei Silwad, nördlich von Ramallah. Es lenkt sie ab von einem Alltag, der geprägt ist von Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit.
Einschränkungen im Alltag
Denn Alltag unter Besatzung bedeutet für die Menschen im Westjordanland: stundenlang warten an Checkpoints, Militäreinsätze, das Risiko von Angriffen radikaler Siedler. Besonders seit den Terrorangriffen vom 7. Oktober 2023 haben Straßenkontrollen, Militäroperationen und Festnahmen stark zugenommen.
Die Vereinten Nationen etwa sprechen von durchschnittlich vier Siedlerangriffen täglich. Nach Angaben der palästinensischen Gefangenenkommission gab es seit dem 7. Oktober mehr als 15.000 Festnahmen im Westjordanland und aktuell zwischen 800 und 900 israelische Armeecheckpoints. Das Militär sagt, um Terror zu bekämpfen.

Für Jugendliche wie die Kletterer bedeutet das massive Einschränkungen in ihrem täglichen Leben. "Wenn man hier klettert, wird man daran nicht erinnert", sagt Asia. Doch jederzeit könne ein Armeejeep auftauchen, die friedliche Situation zerstören. Und genau das passiert auch an diesem sonnigen Klettertag. Das Militär kommt, erklärt die Gegend zum Sperrgebiet. Es gebe eine neue illegale Siedlung am Berg und deshalb möglicherweise Auseinandersetzungen mit den Palästinensern im Dorf, heißt es.
Später bestätigt das Militär auf Anfrage: alles Sperrgebiet. Die Kletterer können hier erstmal nicht wieder hin. Die Siedlung, die auch nach israelischem Recht illegal ist, sei geräumt. Doch als das ARD-Team einige Tage später auf den Berg fährt, sind die Siedler nach wie vor da. Fest steht, es war eine der letzten Kletterrouten, die Asia und ihren Freunden noch geblieben war.

Die junge Dokumentarfilmerin Asia bezeichnet den Gedanken, dass im Westjordanland alle friedlich in einem Staat leben, als einen entfernten Traum. Realistisch sei das nicht.
Mehrheit der Jugend für Ein-Staat-Lösung
Ihre Zukunft hier im Westjordanland sei vollkommen ungewiss, sagt Asia. "Im Idealfall würden wir alle friedlich in einem Staat leben, wo jeder gleiche Rechte hat." Doch realistisch sei das nicht, ein weit entfernter Traum, sagt die junge Palästinenserin, die an einer Kunstakademie Dokumentarfilmen studiert hat.
Immer mehr junge Menschen seien für eine Ein-Staat-Lösung, beobachtet Ghassan Khatib, der an der Birzeit Universität zur Jugend im Westjordanland forscht. Das heißt, ein demokratischer Staat für Muslime, Juden und Christen, statt zwei Staaten entlang der Grenzen von 1967. "Angesichts der aktuellen politische Realität - dem massivem Ausbau israelischer Siedlungen, der Radikalisierung der israelischen Regierung und der öffentlichen Meinung in Israel - verlieren besonders junge Palästinenser die Hoffnung auf eine Zwei-Staaten-Lösung", sagt Ghassan Khatib.
Jugend fühlt sich durch PA nicht repräsentiert
Gleichzeitig fühlen sich mehr als die Hälfte der jungen Menschen im Westjordanland nicht von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) vertreten. "Junge Palästinenser sehen sich nicht als Teil des politischen Systems, weil es seit 20 Jahren keine Wahlen mehr gab."
Die PA biete zudem keine wirtschaftlichen und politischen Perspektiven und werde als verlängerter Arm der israelischen Besatzung wahrgenommen. Die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit unter jungen Palästinensern habe sich seit den Terrorangriffen vom 7. Oktober massiv verschärft. Denn seitdem dürfen die meisten Palästinenser aus dem Westjordanland nicht mehr in Israel arbeiten.
Zunehmende Radikalisierung
Hinzu kämen weitere Einschränkungen des täglichen Lebens durch die Besatzung im Westjordanland. An vielen Tagen hätte die Universität den Unterricht einstellen oder auf Online umstellen müssen, weil Checkpoints und Straßensperren den Weg zur Universität fast unmöglich machen, erklärt der Politikwissenschaftler.
Der Krieg im Gazastreifen und die Eskalation im Westjordanland habe auch zu einer Radikalisierung bei Teilen der Jugend geführt. "Diese Erfahrungen haben den Effekt, dass junge Menschen das Gefühl haben, sie müssen gegen die Besatzung kämpfen", so Khatib. Diese Entwicklung sei immer wieder in Zeiten von Kriegen zu beobachten.

Der Anführer einer militanten Gruppe im Flüchtlingslager Tulkarem, Ihab Abu Atiwe, erklärt seinen Hass gegenüber Israel und den Juden. Einen Monat nach dem Interview wird er bei einem israelischen Luftangriff getötet.
40.000 Menschen auf der Flucht
Zu spüren ist das etwa im Flüchtlingslager von Tulkarem im Norden des Westjordanlandes. Hier leben seit den 1950er-Jahren Palästinenser, deren Familien im Zuge der Staatsgründung Israels geflohen sind oder vertrieben wurden. Hohe Arbeitslosigkeit, wenig Perspektiven, immer wieder israelische Militäreinsätze - ein Nährboden für Radikalisierung.
"Ich kämpfe für Freiheit, um unser Lager zu befreien und dass es keine Juden mehr auf unserem Land gibt", sagt etwa der 23-jährige Ihab Abu Atiwe, der sich als Anführer aller militanter Gruppen im Lager bezeichnet. Die Kinder, die bei diesem Interview tief in den Gassen des Flüchtlingslagers um den schwer bewaffneten jungen Mann herumstehen, sähen ihn als Vorbild und würden ihm nachfolgen als Märtyrer.
Einen Monat nach dem Interview wird er in einem israelischen Luftangriff getötet. Seit Ende Januar führt das israelische Militär die größten Einsätze seit mehr als 20 Jahren in Teilen des nördlichen Westjordanlandes durch. Mehr als 40.000 Menschen sind seitdem auf der Flucht.