Lage in Belarus "Der Protest ist flächendeckend"
Die Opposition in Belarus lässt sich nicht abschrecken: Auch an diesem Wochenende will sie wieder demonstrieren. ARD-Korrespondent Jo Angerer schildert im Interview, wie sich die Opposition organisiert - und wie sich Belarus verändert.
tagesschau.de: Wir stehen vor einem weiteren Wochenende mit Demonstrationen gegen Lukaschenko. Wie erleben Sie die Stimmung in Minsk?
Jo Angerer: Angespannt, weil man befürchtet, dass es an diesem Wochenende noch mehr Polizeigewalt geben könnte. Präsident Aleksander Lukaschenko steht nach wie vor zu seiner Politik der Stärke und bezeichnet die Demonstrationen als illegal. Es sind Polizeikräfte in der Stadt, das ist nicht zu übersehen. Die Opposition hat zu zwei Demonstrationen aufgerufen - die Frauen-Demonstrationen, die am Samstagnachmittag fast schon Tradition ist und die Großdemonstration in Minsk am Sonntag. Die Opposition lässt sich nicht einschüchtern – so ist die Stimmung hier. Ich nehme an, dass sehr viele Menschen auf die Straße gehen werden.
Es geht um mehr als nur um Lukaschenko
tagesschau.de: Spüren Sie diese Spannung auch unter der Woche im Alltag?
Angerer: Einerseits geht der Alltag in Minsk weiter. Die Leute gehen arbeiten, auf den Straßen staut sich der Verkehr. Andererseits trifft man immer wieder Leute, die erkennbar für die Opposition sind, es gibt immer wieder kleinere Versammlungen und Demonstrationen im Stadtgebiet. Diese Protestbewegung ist dauerhaft und zeigt sich nicht nur am Wochenende. Auch im Gespräch mit Bürgern kommt man immer wieder auf dieses Thema zu sprechen und hört die Forderungen der Opposition: Neuwahlen, Freilassung der politischen Gefangenen und letztendlich Rücktritt von Lukaschenko.
tagesschau.de: Bedeutet das, dass Lukaschenkos Strategie der Abschreckung nicht verfängt?
Angerer: Bislang hat die Demonstration der Stärke und der Polizeigewalt nicht funktioniert. Die Leute haben sich nicht einschüchtern lassen und sind weiter auf die Straße gegangen. Die belarusische Gesellschaft hat sich verändert. Es geht nicht nur um den Rücktritt Lukaschenkos, sondern die Leute erzählen jetzt, dass sie ein freieres Leben, dass sie Zukunftschancen haben wollen. Unter den Demonstranten sind viele junge Leute. Sie wollen eine Ausbildung, sie wollen gute Berufe haben. Darum geht es auch bei dem Protest.
Selbstorganisation - die Stärke der Opposition
tagesschau.de: Die führenden Oppositionellen sind nach und nach aus dem Land getrieben worden oder in Haft. Wer trägt denn derzeit den Protest?
Angerer: Das ist Lukaschenkos Problem: Der Präsident und seine Sicherheitsapparat glauben, dass der Protest zusammenbricht, wenn man die Führerinnen wegsperrt oder ins Exil schickt. Aber das funktioniert hier nicht. Die Leute organisieren sich selber und verabreden sich über soziale Netzwerke. Da wird verabredet, wo man sich trifft und was man macht. Die Demonstrationszüge sind eine Art lebender Organismus. Das ist eine Stärke der Opposition
Am vergangenen Sonntag zum Beispiel gab es viele Demonstrationen, die sich teilweise vereinigt haben, dann wieder auseinandergingen, andere Wege einschlugen. Auch, um der Polizei nicht die Chance zu geben, mit massiver Gewalt gegen einen Demonstrationszug vorzugehen. Ein Beispiel für den Ad-hoc-Charakter: Wenn viele Menschen auf der Straße sind, erschwert das die Kommunikation über das Internet, es wird langsamer. Bei einer Demonstration gab es einen Aufruf an alle Leute, die in im Erdgeschoss wohnen, in ihren WLAN-Routern das Passwort zu entfernen. Und plötzlich gab es Hunderte HotSpots, wo sich die Leute einloggen und dann wieder per Smartphone koordinieren konnten.
Die Polizeigewalt trifft jeden
tagesschau.de: Bislang war der Protest stark von Frauen geprägt - trotzdem war das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen sie teils sehr brutal.
Angerer: Anfänglich war die Polizei gegenüber Frauen sehr zurückhaltend und hat vor allem Männer festgenommen. Jetzt wird gegen Frauen genauso hart vorgegangen wie gegen Männer. Am vergangenen Samstag konnten wir beobachten, wie die Frauen eingekesselt und in Gefangenentransporter gedrängt und weggefahren wurden.
tagesschau.de: Sind die Sicherheitskräfte in der Stadt allgegenwärtig? Oder tauchen sie vor allem da auf, wo sich Protest regt?
Angerer: Sie sind nicht offen präsent und halten sich im Hintergrund, tauchen dann bei Protesten punktuell auf und schlagen dann schnell und hart zu.
tagesschau.de: Sind das die berüchtigten OMON-Einheiten, oder kommt auch die Armee zum Einsatz?
Angerer: In der Stadt habe ich auch Armee-Einheiten gesehen, angeblich gab es auch Scharfschützen auf dem Dach des Präsidenteenpalasts. Auch das Kriegerdenkmal wird von Soldaten "bewacht" - dabei hat bislang kein Mensch versucht, es zu stürmen. Allerdings habe ich noch nicht gesehen, dass Armee-Einheiten aktiv bei Demonstrationen eingegriffen hätten.
Der Protest reicht über Minsk hinaus
tagesschau.de: Ist der Protest ein Minsker Phänomen oder wird auch auf dem Land demonstriert?
Angerer: Das ist das neue an diesen Protesten. Bei vorherigen Wahlen gab es eine kurze Zeit lang Proteste, die aber nur in Minsk stattfanden. Jetzt ist der Protest flächendeckend - in vielen Städten und zum Teil sogar auf dem flachen Land, wo Lukaschenko noch die meisten Anhänger hat.
tagesschau.de: Lukaschenko war in dieser Woche beim russischen Präsidenten Wladimir Putin war. Dann hat er angekündigt, die Grenze zum Westen zu schließen, auch wenn das zunächst einmal nicht geklappt hat. Wie ist das zu deuten?
Angerer: Lukaschenko behauptet ja, dass die Proteste vom Ausland gesteuert werden. Dass das Land in Gefahr ist, dass die NATO Belarus überfallen wolle. Dass die EU Unruhe stifte, während die Bevölkerung voll hinter dem Präsidenten stehe. Und diesem Narrativ folgt die Ankündigung der Grenzschließung. Sie ist eine politische Demonstration, ähnlich wie das Militärmanöver, das zurzeit an der Westgrenze zusammen mit russischen Streitkräften abgehalten wird.
tagesschau.de: Ist Lukaschenko durch den Besuch von Putin gestärkt worden?
Angerer: Der Besuch hat ihn zunächst gestärkt, weil Putin nach wie vor hinter Lukaschenko steht. Er wird allerdings auch liefern und einen Plan entwickeln müssen, wie er mit der Situation weiter umgeht. Polizeigewalt allein wird für Putin nicht reichen. Putin will eine russlandfreundliche Regierung. Und er will, dass Belarus ein Pufferstaat zwischen EU und NATO bleibt. Beide will Putin nicht vor der eigenen Haustür haben. Ein russlandfreundlicher Präsident muss für Putin nicht unbedingt Lukaschenko heißen. Die beiden mögen sich ja auch persönlich nicht, wie man weiß.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de