EU-Abkommen mit dem Libanon "Risiko, dass korrupte Eliten gestärkt werden"
Grundsätzlich sind Migrationsabkommen wie der EU-Libanon-Deal begrüßenswert, sagt Migrationsforscherin Kohlenberger. Doch die Frage sei, ob die von der EU versprochenen Finanzhilfen die richtigen Empfänger erreiche.
tagesschau24: Tunesien, Ägypten, jetzt Libanon. Was können solche Deals wie der, den die EU jetzt mit dem Libanon abgeschlossen hat, bringen?
Judith Kohlenberger: Das erklärte Ziel seitens der Europäischen Union ist sogenannte Migrationsprävention. Konkret sollen im Libanon untergebrachte syrische Flüchtlinge davon abgehalten werden, den Weg nach Zypern zu suchen, was in den vergangenen Monaten und Wochen zu einem starken Anstieg der dortigen Asylanträge geführt hat.
Für den Libanon wiederum bedeutet dies eine bitter notwendige Finanzspritze. Das Land ist nicht nur politisch sehr instabil, sondern auch von starker wirtschaftlicher Not betroffen. Ein zunehmend großer Teil der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Und da ist die Hoffnung, dass die EU-Milliardenzahlungen Milderung verschaffen.
Könnte "mehr Fluchtursachen erzeugen als bekämpfen"
tagesschau24: Das Geld soll dem Land Sicherheit und Stabilität bringen. Ist das die richtige Maßnahme dafür?
Kohlenberger: Grundsätzlich finde ich es begrüßenswert, dass der globale Norden gerade die Nachbarländer von Konflikt- und Kriegsregionen unterstützt. Wir wissen, dass Flüchtlinge gerne in der Region, in den unmittelbaren Nachbarländern bleiben wollen.
Jedoch sehen wir, dass der Libanon derzeit ein politisch sehr instabiles Land ist. Immer wieder kommt es zu einem Machtvakuum. Es ist nicht ganz klar, wer auf Dauer der politische Entscheidungsträger sein wird.
Und es steht leider auch das Risiko im Raum, dass mit diesen Zahlungen seitens der Europäischen Union korrupte Eliten gestärkt werden. Die wiederum, und das wissen wir aus investigativen Recherchen, auch mit Gewalt gegen syrische Flüchtlinge vorgehen. Und das würde paradoxerweise mehr Fluchtursachen erzeugen als bekämpfen.
"Bedeutet häufig auch Anwendung von Gewalt"
tagesschau24: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach sich auch für eine engere Zusammenarbeit des Libanon mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex aus. Wie bewerten Sie das?
Kohlenberger: Dieses Schlagwort höre ich als Migrationsforscherin schon seit Jahren - es ist nie ganz klar, was damit gemeint ist. Wir wissen, dass Frontex in den vergangenen Jahren immer wieder auch in Menschenrechtsverletzungen verwickelt war oder zumindest geflissentlich weggeschaut hat, als andere Staaten sie verübt haben. Das sollte natürlich nicht die Zielsetzung der EU sein.
Ganz klar ist aber: Die erklärte Absicht seitens der EU ist es, Geflüchtete von der Überfahrt abzuhalten. Und leider wissen wir, in der Praxis bedeutet solche Grenzsicherung häufig auch die Anwendung von Gewalt gegenüber Schutzsuchenden.
Freiwillige Rückkehr "ganz und gar nicht realistisch"
tagesschau24: Von der Leyen sagte heute, man arbeite an einem strukturierten Ansatz für eine "freiwillige Rückkehr" nach Syrien. Ist das realistisch?
Kohlenberger: Das sehe ich in der derzeitigen Situation als ganz und gar nicht realistisch an. Wir wissen, dass sich die Situation in Syrien noch einmal verschärft hat.
Es gibt immer Landstriche, die sicherer sind als andere. Aber insgesamt muss man sagen, Syrien ist derzeit nicht als sicheres Herkunftsland einzustufen. Genau deshalb erhalten syrische Flüchtlinge, die es bis auf europäisches Territorium schaffen, hier Asyl. Weil ganz klar Fluchtgründe vorliegen.
"Konkrete Konditionen" wichtig
tagesschau24: Dann bleibt die Frage nach Alternativen. Wie könnte man mit der Flüchtlingssituation von Millionen Menschen aus Syrien, von denen wohl auch viele nach Europa wollen, anders und besser umgehen?
Kohlenberger: Im Grunde müsste man an den Fluchtursachen ansetzen. Da sind wir aber sehr schnell in einem Bereich, der nicht mehr die Migrationspolitik, sondern eher die Sicherheitspolitik betrifft. Damit Syrien ein Land wird, in das Menschen wieder zurückkehren können, braucht es zuerst eine Befriedung der Situation.
Davor aber meine ich, dass man sehr wohl Nachbarländer unterstützen kann - auch finanziell. Es ist aber wichtig, dies an konkrete Konditionen zu koppeln.
Es muss sichergestellt sein, dass damit nicht nur die Regierung gestützt wird, sondern auch die lokale Bevölkerung bei der Aufnahme von Geflüchteten. Und dass sich durch diese finanziellen Leistungen auch die Versorgung, die Unterbringungssituation von syrischen Geflüchteten vor Ort verbessert. Denn genau das braucht es, damit diese nicht mehr in Richtung der Europäischen Union weiterreisen wollen.
Das Gespräch führte Michail Paweletz. Für tagesschau.de wurde der Text leicht überarbeitet.