Abstimmung über neue EU-Kommission Kommt jetzt der Rechtsruck im EU-Parlament?
Das Europaparlament wird heute die neue EU-Kommission absegnen - das gilt als sicher. Spannender ist die Frage, wie die Christdemokraten fortan Mehrheiten organisieren wollen. Kommt es zum Pakt mit rechts?
Natürlich können bei Abstimmungen Überraschungen passieren. Gerade im Europaparlament, wo die Abgeordneten sich nicht gern in die Fraktionsdisziplin nehmen lassen. Aber wenn Ursula von der Leyens zweite Kommission heute nicht die Mehrheit bekäme, wäre das schon eine Riesen-Überraschung.
Das Go für die neue Kommission gilt als sicher, weil die Fraktionsspitzen der christdemokratischen EVP, der Sozialdemokraten und Liberalen sich darauf geeinigt haben. Ihre Abgeordneten stellen mehr als die nötige einfache Mehrheit der Anwesenden.
Seit Wochen Grabenkämpfe im Parlament
Einzelne Kommissare können nicht mehr abgelehnt werden, heute geht es um das große Ganze - um die gesamte EU-Kommission, mit Ursula von der Leyen an der Spitze. Eines ist sicher: Ihre zweite Amtszeit wird nicht einfacher als die erste, wahrscheinlich sogar schwieriger. Das liegt an den Grabenkämpfen, die sich die großen Fraktionen im Europäischen Parlament seit Wochen liefern.
Streitpunkt ist die Frage, wie weit rechts die neue Mehrheit liegen darf, mit der die Kommission ins Amt kommt. Auf jeden Fall deutlich weiter rechts als bisher, fordert Manfred Weber. Der CSU-Politiker und Vorsitzende von Europas Christdemokraten sieht sich im Aufwind, er ging gestärkt aus der Europawahl hervor. Seine EVP war vorher schon die größte Fraktion im Parlament, seitdem ist der Abstand zu den folgenden Sozialdemokraten noch größer geworden.
Aus Webers Sicht muss das Folgen haben. "Die Wähler wollen einen Richtungswechsel", sagt er. "Sie haben Grün abgewählt im Europäischen Parlament." Ganz so dramatisch ist es nicht, die Grünen haben immer noch 53 Sitze im Europaparlament - aber sie mussten starke Einbußen hinnehmen, rund 20 Sitze gingen verloren. Dagegen sei die bürgerliche Seite gestärkt, so Weber, das müsse sich niederschlagen.
EVP umwirbt rechtsnationale Kräfte
Seit mehr als zwei Jahren arbeitet Weber an einer Parlamentsmehrheit ohne die Grünen. Er sucht sie bei politischen Kräften, die rechts von CDU und CSU stehen. Dafür ist der Bayer frühzeitig nach Rom gereist, zu einem Zeitpunkt, als Georgia Meloni noch im Wahlkampf stand. Kurz vorher hatte er ein Wahlkampfvideo mit Silvio Berlusconi gedreht, aber ebenso vielversprechend schien das Bündnis mit der aufstrebenden Chefin der Fratelli d‘Italia.
Politikwissenschaftler und Historiker stufen die Meloni-Partei als postfaschistisch ein, aber darin sehen Weber und die meisten Christdemokraten keinen Grund, der gegen eine enge Zusammenarbeit spräche. Einer der "Brüder Italiens", Raffaele Fitto, wird jetzt EU-Kommissar und bekommt dazu das herausgehobene Amt eines Vizepräsidenten der Kommission. Zwar genießt Fitto Ansehen als Europapolitiker auch über die Grenzen seiner eigenen Partei hinaus. Aber die Art und Weise, wie seine Sonderfunktion durchgedrückt wurde, fanden Mitte-Links-Abgeordnete empörend.
"Ein riskanter Kurs"
In den Reihen der SPD zum Beispiel war bis zuletzt offen, ob man für die Kommission stimmen sollte oder nicht. "Manfred Weber und die christdemokratische Fraktion fahren einen riskanten Kurs", sagt der Chef der SPD im Europaparlament, René Repasi. Heftig kritisiert er, dass Weber in den vergangenen Monaten mehrfach Mehrheiten mit Rechtsaußen-Politikern herbeiführte, einmal ließ er seine EVP für einen Antrag der AfD zur Migrationspolitik stimmen.
"Das ist ein anderer Kurs, als ihn Frau von der Leyen gefahren hat", stellt Repasi fest. Die Kommissionspräsidentin sei vor der Sommerpause mit einem "großen Vertrauensvorschuss ausgestattet worden", die proeuropäische Mitte habe sie zur Kommissionspräsidentin gewählt.
Grüne fordern eine Brandmauer
Die Fratelli d‘Italia waren nicht dabei, Meloni versagte von der Leyen die direkte Unterstützung. Dass EVP-Chef Weber sie trotzdem umwirbt, um eine neue Mehrheit rechts der Mitte aufzubauen, hat auch bei den Grünen für Ärger gesorgt. "Wir brauchen eine Brandmauer", fordert die Co-Vorsitzende der Grünen, Terry Reintke. Die Abgeordnete aus dem Ruhrgebiet hält es für falsch, dass die Christdemokraten ein Bündnis mit rechtsnationalen Kräften eingehen, um ihre politischen Ziele zu erreichen.
An den Zielen lässt Weber selbst keinen Zweifel, sie standen im Wahlprogramm: Abkehr vom Verbot des Verbrennermotors, Rücknahme umweltfreundlicher Reformen in der Agrarpolitik und zusätzliche, neue Vorgaben aus Brüssel nur, wenn sie im Einklang mit den Interessen von Wirtschaft und Landwirtschaft stehen. Mit den Grünen lassen sich solche Positionen nicht realisieren, mit dem neuen Rechtsbündnis schon - die Abstimmung für die Kommission könnte deshalb nach Einschätzung von Webers Kritikern eine Blaupause liefern für künftige Mehrheiten bei der Verabschiedung von Gesetzen.
Trotzdem werde die Mehrheit der Grünen wohl für die neue Kommission stimmen, kündigt Terry Reintke an, sie selbst werde das auch tun. Leicht falle ihr das nicht, sagt sie im Gespräch mit der ARD. Aber bei der Wahl gehe es auch darum, die Handlungsfähigkeit der EU zu sichern. Entscheidend für das Ja sei zusätzlich eine Zusage von Ursula von der Leyen gewesen - die Zusage, dass sie als Kommissionspräsidentin ihre Mehrheiten in der Mitte des Parlaments mit den proeuropäischen Fraktionen suchen werde.
Von der Leyens Strategie unklar
Verfolgt Ursula von der Leyen (CDU) womöglich eine andere Strategie als Fraktionschef Manfred Weber (CSU)? Oder lässt sie ihn agieren, weil sie gar keine andere Wahl hat und auf sichere Mehrheiten angewiesen ist? In den Reihen der Grünen und der Sozialdemokraten wird die Frage diskutiert. Die Antworten fallen unterschiedlich aus. Einige hoffen, dass die alte und neue Kommissionspräsidentin am Green Deal, der klimafreundlichen Transformation von Europas Wirtschaft, festhält und das Projekt nicht von einem neuen Rechtsbündnis rückabwickeln lässt.
So steht es auch in der Vereinbarung, die Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale kurz vor der Abstimmung geschlossen hatten. Aber darin steht vielsagend auch, dass man mit allen Kräften zusammenarbeiten kann, die Pro-Europa, Pro-Ukraine und Pro-Rechtsstaat sind. Und das sind exakt die Kriterien, die Manfred Weber schon vor rund zwei Jahren, bei seinem Besuch in Rom, als vollständig erfüllt ansah - durch die postfaschistischen Fratelli d‘Italia von Georgia Meloni.