Wut in Griechenland Nach dem Zugunglück ist vor der Wahl
Nach dem Zugunglück versucht Ministerpräsident Mitsotakis, sich tatkräftig zu zeigen - und sucht die Schuld bei Anderen. Doch die Menschen in Griechenland sind zwei Monate vor den Wahlen weiter wütend.
Ilias Papangelis bekommt eine Alarmnachricht auf sein Handy: ein Zugunglück zwischen Athen und Thessaloniki. Der Arzt versucht sofort, seine Tochter anzurufen.
Sie hatte die Eltern über die Feiertage besucht und war auf dem Weg zurück nach Thessaloniki. Als er sie nicht erreicht, ist ihm klar: Anastasia ist tot.
Verkettung von Fehlern
Der schwerste Zugunfall des Landes war eine Katastrophe mit Ansage. Immer deutlicher tritt zutage, wie viele Fehler und Nachlässigkeiten zu dem Unglück führten. Im Fokus steht der diensthabende Fahrdienstleiter vom Bahnhof der Stadt Larisa. Er soll die Weiche für den Personenzug falsch gestellt haben.
Der 59-Jährige war erst wenige Monate zuvor aus einer anderen Abteilung kommend umgeschult worden, obwohl die Stelle des Fahrdienstleiters für Unter-50-Jährige ausgeschrieben war. An jenem Abend war er allein vor Ort; der zweite diensthabende Kollege hatte seinen Posten vorzeitig verlassen. Zuvor soll er jedoch den entgegenkommenden Güterzug fälschlicherweise als "durchgefahren" ins Protokoll geschrieben haben.
Voreilige Festlegung auf individuellen Fehler
Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis eilte zur Unfallstelle und zeigte sich tatkräftig: Der Verkehrsminister trat sofort zurück, Mitsotakis gelobte eine Verbesserung der Bahnsicherheit und sagte, dass tragisches menschliches Versagen verantwortlich für das Unglück sei.
Diese voreilige Festlegung auf einen individuellen Fehler befeuerte die Wut der Griechen. Denn das Unglück macht deutlich, wie stark das griechische Zugnetz heruntergewirtschaftet wurde.
Systemische Sicherheitsmängel bekannt
Die Gewerkschaften hatten immer wieder deutlich vor Ausfällen der Sicherheitstechnologie und vor Personalmangel gewarnt - und auf die damit verbundenen Gefahren hingewiesen. Doch die Regierung hatte dies stets abgetan.
Nun stellte sich heraus, dass die meistbefahrene Strecke Griechenlands über kein automatisches Warnsystem verfügt. Signale funktionieren nicht. Eine zentrale Leitstelle in Larisa wurde 2019 nach einem Kabelbrand zerstört und seitdem nicht repariert, weshalb die Weichen per Hand gestellt werden müssen. Es fehlt eine unabhängige Prüfstelle für kleine und für verhinderte Unfälle, obwohl sich das Land gegenüber der EU zu diesem Standard verpflichtet hat.
Die Jugendlichen und der Wahlkampf
Die Bahn streikte wochenlang, Zzehntausende Menschen demonstrierten seit dem Unglück gegen die Missstände. Die meisten der 57 Toten waren Studierende - gerade junge Menschen sind jetzt aufgebracht. Sie fühlen sich von der älteren Generation verraten.
Das ist nun von besonderer Relevanz, denn in Griechenland ist Wahlkampfzeit - und das Wahlalter liegt seit diesem Jahr bei 17 Jahren. Ministerpräsident Mitsotakis, der nach Umfragen vor einer stabilen Wiederwahl stand, hat den Wahltermin vom April auf Ende Mai verschoben.
Schuldzuweisung auch an Opposition
Unglücke haben bei vielen Griechen in der Vergangenheit bereits die Wahlentscheidung beeinflusst. Mitsotakis erkannte seine unglückliche Äußerung und entschuldigte sich - zielgruppengerecht in den sozialen Medien - für seine eigenen Fehler und die seiner Regierung.
Gleichzeitig vergaß er nicht, seinen politischen Gegner mit in die Verantwortung zu nehmen: Unter der linken Vorgängerregierung war die Bahn unter Druck der EU teilprivatisiert worden. Geschickt versucht Mitsotakis die Kritik an den Missständen umzudeuten: Die Umstände, die zu dem Zugunglück führten, erinnerten an das "alte, schlechte Griechenland", so Mitsotakis. Sie seien daher ein Beleg dafür, wie sehr das Land eine weitere Amtszeit seiner Regierung brauche.
Zweifelhafte Soforthilfen
Den Familien der Opfer hat die Regierung schnelle Hilfen zugesagt: Unter anderem erhalten alle engsten Angehörigen eine Sofortrente in der vierfachen Höhe des üblichen Rentensatzes. Außerdem sollen sie auf Wunsch eine Anstellung im öffentlichen Dienst bekommen.
Steuerschulden werden erlassen, und überlebende Studierende aus dem Zug bekommen für den Rest des Studiums kostenloses Mensaessen, einen Platz im Wohnheim und Zusatzpunkte bei Prüfungen.
Europäische Staatsanwaltschaft ermittelt
Eigentlich sollte Griechenland mit EU-Subventionen die Sicherheit im Bahnverkehr ausbauen. Das Projekt sollte 2014 beginnen, doch bis heute ist es nicht angelaufen. Gegenüber der ARD bestätigte die Europäische Staatsanwaltschaft, dass sie deshalb bereits im vergangenen Jahr Ermittlungen aufgenommen hat.
Trotz der vielen Fehler auf unterschiedlichen Ebenen spüre er keine Wut, sagt der Vater Ilias Papangelis, nur Kummer. Er könne seit dem Tod seiner Tochter nicht mehr richtig schlafen, esse nur wenig. Seine Praxis öffnete er drei Wochen nach dem Unglück wieder, um auf andere Gedanken zu kommen. Abends hole ihn die Trauer dann wieder ein. Anastasia sei nun ein "freier Engel", sagt ihr Vater: Sie sei immer bei ihm.
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