Einsatz auf dem Mittelmeer Seenotretter an der Gesetzesleine
Private Seenotretter stecken in einem Dilemma. Italiens Regierung schreibt seit Kurzem vor, dass Rettungsschiffe nach einem einzigen Einsatz direkt zurück in den Hafen müssen. Was aber, wenn unterwegs ein weiterer Notruf kommt?
Land in Sicht: Europa. Es ist 6:30 Uhr an einem Morgen im Dezember, die See endlich mal ruhig. Die Silhuette von Tarent an der süditalienischen Küste wirkt friedlich.
Eine Gruppe junger Männer stellt sich zum Selfie auf. Das erste Selfie auf dem Europa zu sehen ist. "Es ist unmöglich, dieses Gefühl zu beschreiben. Es ist überwältigend", sagt der 19-jährige Zain aus Syrien. Ein Glücksmoment für ihn, egal was kommt.
Fünf Tage zuvor ist er mit 32 anderen Menschen an der libyschen Küste gestartet, sie alle haben viel Geld für diese Reise bezahlt. Etwa zur selben Zeit erreicht das Seenot-Rettungsschiff "Geo Barents" die Zone vor der Küste, in der üblicherweise Boote mit Migranten unterwegs sind. Eine andere NGO kreuzt derweil mit ihrem Schiff vor der tunesischen Küste.
Platz für hunderte Menschen
Seit zwei Jahren haben die "Ärzte ohne Grenzen" die "Geo Barents" eigens für solche Missionen gechartert. Vorher war das große Schiff, auf dem Hunderte Menschen Platz haben, für seismologische Forschungen unterwegs. An Bord nun: die Crew und 23 Mitarbeiter der Hilfsorganisation.
Nur fünf davon gehören zum medizinischen Team. Andere arbeiten im Rettungsteam, wieder andere sind für die ersten Informationen an die Geretteten zuständig oder für die Verständigung, sprachlich oder auch kulturell.
Das Schiff hat eine lange Reise hinter sich. Beim vorherigen Rettungseinsatz wiesen ihnen die italienischen Behörden den Hafen Ravenna zu, in der nördlichen Adria.
Wachdienst rund um die Uhr
Auf der Brücke sind jetzt rund um die Uhr Crew-Mitglieder zur Wacht eingeteilt. Etwa 30 Seemeilen vor der libyschen Küste taucht ein winziges Boot auf. Sechs Menschen könnten an Bord sein, so der erste Eindruck der Seenotretter.
Die Rettung startet, löst aber gemischte Gefühle aus. Team-Managerin Virginia Mielgo González erklärt, dass sie nach dem italienische Recht seit diesem Jahr sofort nach einem Rettungseinsatz einen sicheren Hafen ansteuern müssen, obwohl sie mehr Leute an Bord versorgen könnten. "Hier gibt es möglicherweise heute oder morgen noch mehr Fälle, also ist es sehr frustrierend, das Gebiet mit nur sechs Leuten verlassen zu müssen."
Innerhalb von Minuten sind zwei Schnellboote auf dem Wasser. Am Boot angekommen, sehen sie, dass es mit elf Menschen überfüllt und in Seenot ist. Zwei Babies sind unter den Geretteten. Keine Rettungswesten, kaum Wasser, keine Lebensmittel.
Das Boot der Migranten sinkt, kurz nachdem die Menschen an Bord der "Geo Barents" in Sicherheit sind.
Rund um die Uhr wird die See überwacht - sobald ein Boot entdeckt wird, muss schnell gehandelt werden. (Sendungsbild)
Erschöpft und erleichtert
An Bord der "Geo Barents" dann ein erster Gesundheits-Check: Auf den ersten Blick wirken alle gesund, aber die Verletzungen, die dem Ärzte-Team bei diesen Einsätzen regelmäßig begegnen, werden oft erst in Gesprächen klar.
Psychiaterin Nyassa Navidzadeh ist seit Jahren für "Ärzte ohne Grenzen" in den Krisenherden der Welt unterwegs, derzeit arbeitet sie zwei Monate an Bord der "Geo Barents", zwei Monate daheim in Kanada. "Hier behandeln wir Menschen, die allein schon wegen ihrer derzeitigen Reise mit dem Boot akuten psychischen Stress haben. Darüber hinaus aber auch aufgrund der Ereignisse, die sie in ihrem Herkunftsland oder in Libyen erlebt haben. Ich arbeite hier mit Menschen, die Opfer von Folter, Gewalt - sexueller Gewalt, physischer Gewalt und psychischer Gewalt - sind."
Ein weiteres Boot wird gesichtet
Während die elf Geretteten aus Eritrea sich ausruhen und die Crew auf die Zuteilung eines Hafens wartet, taucht erneut ein Boot auf. Diesmal 33 Menschen, wieder sind Kinder dabei - es ist das Boot, mit dem auch Zain, der junge Syrer, sich auf den Weg gemacht hatte. Auch dieser Rettungseinsatz geht schnell, zum Glück haben alle überlebt. Aber weit wären auch sie nicht mehr mit dem Boot gekommen.
Zain erinnert sich genau an den Moment, als beide Motoren ausfielen. "Wir blieben stehen, die Wellen waren so heftig, dass wir beinahe gekentert wären, zwischen einem halben und einem Meter waren sie hoch. Als das Schiff kam, hatten wir Angst, es würde uns nach Libyen fahren, wo sie Migranten aufgreifen, verhaften und ins Gefängnis stecken."
Der Zielhafen: Tarent
Die "Geo Barents" nimmt jetzt Kurs auf Tarent in Süditalien. Zwei Tage, drei Nächte wird die Reise dauern. Auf dem Deck der Migrantinnen und Migranten, Frauen und Männer getrennt, entsteht zwischen Schlafenden, Betenden oder leise plaudernden Menschen eine gewisse Aktivität.
Das Rettungsteam informiert in sprachlich sortierten Gruppen darüber, was die Menschen in Italien erwartet und bietet einen ersten Blitzkurs in Italienisch an. Manche wollen von Italien weiterziehen, nach Großbritannien, Belgien oder in die Niederlande.
Zain will, wie auch die anderen Syrer an Bord, auf jeden Fall nach Deutschland. Sehr viele haben aber gar keinen Plan, ihr Ziel war erstmal, Europa zu erreichen. Weg von dem was vorher war.
Sie haben die Flucht über das Mittelmeer überlebt. Nun können sich die Geretteten an Bord der "Geo Barents" langsam mit ihrer Zukunft befassen.
Traumatische Erfahrungen in Tunesien
Zwei noch minderjährige Cousins aus dem Sudan sehen in ihrem kriegsgeplagten Land keine Zukunft. Sie haben sich in Libyen wieder getroffen, nachdem der 16-jährige Walid zunächst von Tunesien aus nach Europa wollte.
Aber in Tunesien werden Einwanderer aus Ländern südlich der Sahara seit einer rassistischen Rede des dortigen Präsidenten diskriminiert, geradezu verfolgt . Walid gehörte nach eigener Darstellung zu den Menschen, die im Sommer von in der Wüste ausgesetzt wurden. "Die Tunesier brachten uns in die libysche Wüste", erzählt er, "wir mussten zwei Tage lang laufen, um nach Libyen zu gelangen, es war weit. Und wir hatten nicht einmal Wasser."
Notruf während der Rückfahrt
Auf der Rückfahrt erreicht die "Geo Barents" ein Notruf, 42 Menschen könnten in Seenot sein.
Das Schiff müsste allerdings umkehren, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Mehrfach versucht das Team, von den maltesischen und italienischen Behörden die Erlaubnis zur Umkehr zu bekommen.
Es gelingt nicht. Wie viele solcher Notrufe unerhört bleiben und wie viele Boote gänzlich unbemerkt sinken, weiß niemand.
Helfer in der Zwickmühle
Virginia Mielgo González sieht ihr Team seit diesem Jahr in einer Zwickmühle: "Wir wissen, dass es noch andere Fälle geben kann, die Hilfe benötigen und wir haben ein großes Schiff und könnten reagieren. Aber sobald wir eine Rettung gemacht haben, sind wir gezwungen, das Einsatzgebiet zu verlassen."
Warum das so ist? Der italienische Innenminister Matteo Piantedosi verwies im Oktober im italienischen Parlament auf internationale Konventionen: Man habe damit die Seenotrettung "in keinster Weise verhindert, sondern nur sichergestellt, dass sie geordnet und nach den internationalen Verpflichtungen ablaufen, nach dem sich der italienische Staat richten muss."
Die Freude unter den geretteten Migranten bei Ankunft in Tarent ist groß. Nun müssen sie klären, wo sie bleiben können. (Sendungsbild)
In Europa angekommen - und nun?
Nach insgesamt zehn Tagen auf See läuft die "Geo Barents" in den Hafen von Tarent ein. An einem anderen Pier liegt das Deutsche Seenot-Rettungsschiff "Sea Eye".
Kaum jemand von den Männern und Frauen, die frühmorgens müde, aber mit einem Glänzen in den Augen ihren ersten Blick auf Europa werfen, weiß, wie heftig in Europa gerade über Migration diskutiert wird. Und kaum jemand von ihnen kannte vorher die "Ärzte ohne Grenzen".
Die singen zum Abschied "Bella ciao" für die Geretteten. Drei Tage lang haben sie Menschen begleitet, für die diese Tage existentiell zwischen Leben und Tod waren.
Und dann sind diese Menschen auch schon wieder weg: steigen in einen Bus vom Roten Kreuz, formen ein Herzchen mit den Händen, winken dankbar und fahren ab, in eine ungewisse Zukunft.