Lage in Nahost vor Blinken-Besuch "Ein Waffenstillstand ist unrealistisch"
Zum vierten Mal seit Beginn des Kriegs reist US-Außenminister Blinken in den Nahen Osten. Doch die Aussichten auf eine Waffenruhe sind schlecht, sagt Nahost-Experte Gerlach im Interview. Kann die Gewalt dennoch reduziert werden?
tagesschau: US-Außenminister Blinken reist in die Nahost-Region. Seit Tagen wird in Katar im Hintergrund verhandelt, es geht hier vor allem wohl um den Vorschlag Ägyptens in Bezug auf einen möglichen Waffenstillstand. Was können Sie uns über den Stand der Verhandlungen sagen?
Daniel Gerlach: Der Besuch von Herrn Blinken ist die eine Sache und die Verhandlungen sind die andere. Natürlich spielen die Amerikaner als Anwalt der israelischen Seite in all diesen Verhandlungen eine wichtige Rolle. Aber für die Amerikaner geht es um mehr als die Befreiung der Geiseln, auch wenn das ein wichtiges Ziel ist.
Die Amerikaner wollen das Heft nicht aus der Hand geben und vor allem mitbestimmen, wie der Zeitplan der Militäroperation in Gaza aussieht. Denn das Ganze wirkt jetzt hinein in den amerikanischen Vorwahlkampf. Und wir sehen, dass es auch immer mehr Verstimmungen und immer offener ausgetragene Konflikte zwischen der israelischen Regierung und der Biden-Administration gibt.
"Die israelische Seite will kein Waffenstillstand"
tagesschau: Wie wahrscheinlich sind derzeit aus Ihrer Sicht die Chancen für einen möglichen Kompromiss, also die Erfolgsaussichten für einen Waffenstillstand? Oder vielleicht zunächst einmal eine Waffenruhe?
Gerlach: Ich denke, auf eine Waffenruhe oder einen Waffenstillstand kann man in der derzeitigen Situation kaum hoffen. So dramatisch die humanitäre Lage auch ist in Gaza - es wäre dringend notwendig, dass ein solcher Waffenstillstand zustande kommt.
Aber die israelische Seite möchte das nicht. Und sie hat angekündigt und alle darauf eingestellt, dass diese Operation noch Monate weitergehen wird.
Das heißt: Von dem Ziel Waffenstillstand, auch wenn man das politisch immer wieder fordern kann und auch sollte, muss man sich hinter den Kulissen ein Stück weit verabschieden. Entscheidend ist, dass die Gewalt reduziert wird.
Dass man die israelische Seite nicht daran hindern kann, eine Militäroperation im Gazastreifen fortzusetzen, dürfte auch der arabischen Seite klar sein. Aber: Wie kann man dafür sorgen, dass diese Militäroperation an Intensität verliert und vor allem nicht mehr auf die Zivilbevölkerung zielt?
Denn bisher wurde die Zivilbevölkerung nicht nur im Sinne von Kollateralschäden von den israelischen Angriffen in Mitleidenschaft gezogen, sondern zum Teil gezielt ins Visier genommen. Weil man die Bevölkerung des Gazastreifens mitverantwortlich für das Massaker am 7. Oktober macht, sie bestrafen und in Zukunft für Abschreckung sorgen möchte.
Die am vergangenen Dienstag bekannt gewordene Tötung eines hohen Hamas-Kommandeurs in Beirut hat allerdings die Karten noch mal neu gemischt. Denn es kann sein, dass dadurch eine neue Situation entsteht, die auch die Amerikaner in einen Konflikt hineinziehen kann.
Daniel Gerlach ist Autor, Publizist und Experte für Nordafrika, den Nahen Osten und die muslimische Welt. Er ist u. a. Chefredakteur des Magazins zenith. Das Magazin beschäftigt sich mit der Lage in der islamisch-arabischen Welt.
Dramatische Auswirkungen sollte Hisbollah zurückschlagen
tagesschau: Blicken wir auf die Terrororganisation Hamas. Könnte der eben angesprochene Schlag gegen den hochrangigen Hamasführer in Beirut Israel einen entscheidenden Schritt darin weiter bringen, die eigenen Kriegsziele, also die Zerschlagung der Hamas, zu erreichen?
Gerlach: Propagandistisch wohl, schließlich hat die israelische Seite gezeigt: "Wir machen unsere Drohung wahr, wir treffen die Hamas-Vertreter überall auf der Welt." Katar und auch die Türkei hatten den Israelis zuvor ganz klar gemacht, dass sie mit sehr ernsten Konsequenzen rechnen müssten, wenn sie ihr auf ihrem jeweiligen Territorium zuschlagen sollten.
Im Libanon denkt die israelische Regierung, freie Hand zu haben, auch wenn sie diesen Schlag nicht für sich reklamiert hat. Wobei natürlich alles dafür spricht, dass Israel dafür verantwortlich ist.
Regierungssprecher Mark Regev hat zum Beispiel in einem Interview erklärt, dass das weder ein Schlag gegen die Hisbollah noch ein Schlag gegen das libanesische Staatsgebiet gewesen sei, sondern allein der Hamas gegolten habe.
Das Ganze kann dramatische Auswirkungen haben, denn wenn die Hisbollah zurückschlägt, wenn sie an der Nordgrenze Israels weiter eskaliert, kann das zu einem großen Krieg führen, zu einem großen Militärschlag im Libanon, aber auch zu heftigen Raketenbeschuss.
tagesschau: Wie groß ist aus Ihrer Sicht die Gefahr eines sogenannten Flächenbrandes?
Gerlach: Auch wenn mir dieser Begriff des Flächenbrandes nicht gefällt, weil er sehr ungenau ist, denke ich, die Gefahr einer regionalen Eskalation ist nach wie vor groß. Das kann das Westjordanland betreffen.
Das betrifft aber insbesondere die derzeitige Situation im Libanon. Die Hisbollah ist nicht die Hamas. Und die israelische Seite weiß auch, dass die Hisbollah andere Optionen hat, als einen Krieg gegen Israel zu führen. Denn sie ist auch ein Akteur in Syrien, ein Akteur in der libanesischen Politik, letztendlich ein politischer Akteur in der gesamten Region.
Nun weiß wiederum die Hisbollah auf der anderen Seite, dass die Israelis eine Verteidigungsdoktrin haben, die ihnen nicht viel Bewegungsfreiheit gibt.
Denn die Israelis sind spätestens nach dem 7. Oktober zu der Ansicht gekommen: Ein Feind, der das Potenzial, die Rüstungsgüter und die Streitkräfte hat, um sie anzugreifen, wird dies früher oder später tun.
Insofern befinden wir uns gerade in einem echten psychologischen Krieg. Denn es kann sein, dass die Israelis eben einen Präventivkrieg führen, um einem Angriff der Hisbollah zuvorzukommen.
Es kann aber auch sein, dass die Hisbollah versuchen wird, diesem Präventivangriff ihrerseits zuvorzukommen. Ich glaube, auch die Amerikaner möchten deshalb jetzt deeskalieren.
Außenminister Blinken fährt auch deswegen in die Region, um zu zeigen, dass die USA daran kein Interesse haben. Die Amerikaner fürchten womöglich, dass die Israelis sie in einen solchen regionalen Konflikt hineinziehen können.
Und der hätte dann Folgen für den Libanon, für Iran, für den Persischen Golf, für das Rote Meer und andere Gegenden, wo amerikanische Truppen stationiert oder mit Seestreitkräften präsent sind.
Bidens Interesse an Beendigung des Konflikts
tagesschau: Die USA steht vor den nächsten Wahlen dieses Jahr. Welchen Einfluss hat denn diese Eskalation in der Region auf den Ausgang der Wahlen oder auf den nun Fahrt aufnehmenden Wahlkampf?
Gerlach: Joe Biden steht auf der einen Seite bei seinen eigenen Anhängern als jemand da, der nicht entschieden genug auf Frieden hinwirkt und auch die israelische Seite nicht genug einhegt.
Auf der anderen Seite steht aber das konservativere Lager, das vor allem in den sogenannten Swing States überzeugt werden muss, wenn Biden hier gewinnen soll. Und da wird er unter Umständen als zu schwacher Unterstützer Israels betrachtet.
Deswegen hat Biden ein großes Interesse daran, diesen Krieg schnell zu beenden. Und er tut das zweigleisig auf der einen Seite durch Verhandlungen, auf der anderen Seite, indem er im Hintergrund den Israelis eine Art Carte Blanche gegeben hat, was die US-amerikanischen Waffenlieferungen angeht.
Als Druckmittel hat er dieses Thema bisher gegenüber der Regierung Netanyahu nicht ausgespielt. Und das halte ich für ein größeres Problem.
Neben den Vereinigten Staaten gibt es nur wenige Länder, und dazu gehört etwa die Bundesrepublik Deutschland, die in großen Teilen der Welt so deutlich als Konfliktpartei auf Seiten Israels wahrgenommen werden. Und da müssen sich die Vereinigten Staaten entscheiden, denn bisher ist es ihnen nicht gelungen, den Konflikt aus dieser Haltung heraus entscheidend zu beeinflussen.
Zurückhaltung ersetzt keine Politik
tagesschau: Sie erwähnten, dass sich ja Deutschland neben den USA sehr klar positioniert hat nach den Terrorangriffen des 7. Oktobers. Inwiefern verhandelt Deutschland eigentlich auch am Rande mit, wenn es jetzt um die Zukunft nach diesem Krieg geht?
Gerlach: Ich finde es auffällig, wie still sich die deutsche politische Elite und auch die Bundesregierung zu diesem Thema verhalten. Das Thema Gaza und die dramatischen humanitären Konsequenzen sind in den Hintergrund gerückt.
Das sogenannte konstruktive Schweigen, das heißt also keine oder kaum öffentliche Kritik zu üben, sich zu enthalten bei den Vereinten Nationen und so weiter, um eben der israelischen Seite die gewünschte Zeit zu geben, die Hamas zu bekämpfen - das alles ersetzt keine Politik.
Das Gespräch führte Katja Keppner, tagesschau.de