Wladimir Putin
interview

Präsidentenwahl in Russland "Die am stärksten manipulierte Wahl seit 30 Jahren"

Stand: 15.03.2024 08:04 Uhr

Ein Präsident ohne Programm, blasse Gegenkandidaten, dubiose Abstimmungsbedingungen: Das Ergebnis der Wahl in Russland werde in jeder Hinsicht manipuliert sein, sagt die Russland-Expertin Sabine Fischer. Was aber geschieht danach?

tagesschau.de: Mit welchem Programm tritt Wladimir Putin vor seine Wähler? Hat er überhaupt so etwas wie ein Wahlprogramm?

Sabine Fischer: Putin hat kein Wahlprogramm im eigentlichen Sinne, das würde man auch auf seiner Kampagnenwebseite vergeblich suchen. Das Programm Putins ist Putin selbst. Es geht um die Bestätigung seiner Herrschaft, die jetzt mittlerweile 24 Jahre dauert. Politik findet in Russland nicht mehr statt. Das autoritäre Regime hat in den vergangenen 15 bis 20 Jahren jede Form von politischer Debatte mit alternativen Positionen in einem öffentlichen Raum, an der sich die Gesellschaft beteiligen kann, eliminiert.

Insofern muss Putin auch kein Programm anbieten. Das, wofür er steht, ist vor allen Dingen der Krieg. Er hat es in seiner Ansprache an die Föderalversammlung noch einmal sehr klar gemacht, dass das gesamte Schicksal, die Zukunft Russlands vom Krieg abhängt - und er selbst als Person und seine autoritäre Herrschaft.

Beginn der dreitägigen Präsidentenwahl in Russland

Norbert Hahn, WDR, tagesschau, 15.03.2024 20:00 Uhr

Wie sich die Gesellschaft aufteilt

tagesschau.de: Es besteht ja kein Zweifel daran, dass Putin im Amt bestätigt wird. Wie erklären Sie den Rückhalt, den Putin in der russischen Gesellschaft immer noch hat?

Sabine Fischer
Zur Person
Sabine Fischer ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Zu ihren Themenschwerpunkten gehören die russische Außen- und Sicherheitspolitik und ungelöste Konflikte in der östlichen EU-Nachbarschaft. 2023 erschien ihr Buch "Die chauvinistische Bedrohung: Russlands Kriege und Europas Antworten".

Fischer: Ich gehe auch davon aus, dass Putin nach wie vor von einer Mehrheit in der Gesellschaft unterstützt wird. Dennoch muss man annehmen, dass das Ergebnis dieser sogenannten Wahl durch und durch manipuliert sein wird. Es gibt unabhängige russische Soziologinnen und Soziologen, die versuchen, die Stimmung in der Gesellschaft zu ermitteln.

Sie sprechen in etwa von einer Aufteilung der russischen Gesellschaft in 25-50-25: 25 Prozent überzeugte Unterstützer und Unterstützerinnen des Krieges, dann eine große Gruppe in der Mitte von ungefähr 50 Prozent, die im Grunde genommen manipulierbar ist, wahrscheinlich mehrheitlich Putin unterstützt, sich möglicherweise in einer anderen politischen Situation von Putin abwenden würde.

Und dann noch einmal 25 Prozent, die gegen den Krieg und das Regime sind, von denen aber nur ein geringer Anteil bereit ist, für ihre Überzeugungen aktiv zu werden und das damit verbundene hohe persönliche Risiko in Kauf zu nehmen. Unter dem Strich wird das Wahlergebnis wahrscheinlich um die 80 Prozent für Putin liegen, damit das Wahlergebnis von 2018 übertroffen wird, aber die eigentliche Unterstützung dürfte wesentlich niedriger sein.

"Alles ist dem Krieg untergeordnet"

tagesschau.de: Wozu wird Putin seine nächste Amtszeit nutzen?

Fischer: Er wird in erster Linie den Krieg weiterführen. Am Beginn dieses dritten Kriegsjahres ist alles in Russland, Innenpolitik und alle Aspekte der Außenpolitik, dem Krieg untergeordnet. Das war zu Beginn der vollen Invasion im Februar 2022 sicher nicht vorgesehen. Aber die Erwartung eines Blitzkrieges hat sich als katastrophaler Trugschluss erwiesen. Bis heute hat Russland es nicht geschafft, diesen Krieg für sich zu entscheiden und wird deshalb auch nach dieser Wahl die Ausrichtung aller Bereiche des politischen Lebens der siegreichen Beendigung dieses Krieges unterordnen.

tagesschau.de: Das ist ein Modell, das in der Wirtschafts- und Sozialpolitik stark auf staatlichen Impulsen beruht. Sind die darin liegenden Widersprüche nicht irgendwann zu groß und auch riskant für Putin?

Fischer: Das kann man nicht ausschließen. Momentan sind die Koordinaten relativ stabil. Solange es gelingt, die russische Wirtschaft selbst mit abnehmender Dynamik am Laufen zu halten, so dass keine größere sozioökonomische Krise eintritt, solange das Regime der Elite, vor allem der Bevölkerung versichern kann, dass man den Krieg gewinnt, solange können mögliche Destabilisierungsfaktoren isoliert werden. Wenn es aber zu einem Schock kommen sollte, zu einer größeren ökonomischen Krise mit massiven Auswirkungen auf die Bevölkerung oder zu spürbar zunehmendem militärischen Druck und großen Gebietsverluste in der Ukraine, dann könnte es sein, dass dieses Gleichgewicht außer Kontrolle gerät und es zu Absetzbewegungen in den Eliten und zu Protesten in der Bevölkerung kommt.

Im Herbst 2022 und auch im ersten Halbjahr 2023 haben wir gesehen, dass es sofort innenpolitische Auswirkungen hat, wenn die russischen Streitkräfte in der Ukraine unter Druck geraten. Als dann Putin nach ukrainischen Rückeroberungen die Teilmobilmachung verkündete, hat das eine starke Gegenreaktion ausgelöst - Demonstrationen, Hunderttausende, die damals das Land verlassen haben. Auch der Konflikt zwischen Wagner-Chef Jewgenij Prigoschin und dem Verteidigungsministerium und dem Generalstab im Frühjahr 2023, der in einer Meuterei endete, waren Momente der Instabilität, die stark mit der Situation auf dem Schlachtfeld in der Ukraine zu tun hatten. Aber solange es im Krieg für das russische Regime gut läuft, müssen sie nicht befürchten, dass innenpolitisch eine nennenswerte Opposition entsteht.

Rekrutieren ohne weitere Mobilmachung

tagesschau.de: Eine neue Mobilisierung, über die immer wieder spekuliert wird, wäre so gesehen ein erhebliches Risiko für Putin?

Fischer: Damit rechne ich nicht. Hier wird das Regime weiterhin vorsichtig sein - und sie ist im Moment militärisch nicht unbedingt nötig, zumal das Regime in den vergangenen 1,5 Jahren daran gearbeitet hat, weiter rekrutieren zu können, ohne eine große Mobilmachung auszurufen.

Wichtig ist aus russischer Sicht die US-Präsidentschaftswahl im November. Man hofft darauf, dass Donald Trump gewinnt und danach die westliche Unterstützung für die Ukraine kollabiert, Russland also die Ukraine "ernten" kann, ohne dafür noch größere Anstrengungen unternehmen zu müssen.

tagesschau.de: Haben nicht auch die Kandidaturen von Boris Nadeschin und Jekaterina Dunzowa gezeigt, welches Protestpotential es weiterhin gibt?

Fischer: Das ist das einzig interessante an dieser Wahl. Im Umfeld dieser unterdrückten Kandidaturen ist schlaglichtartig sichtbar geworden, dass es in der russischen Gesellschaft eine Kriegsmüdigkeit und ein Potenzial für eine gesellschaftliche Mobilisierung gegen den Krieg gibt. Das hat sich auch während des Begräbnisses von Alexej Nawalny gezeigt und in der Unterstützung vor allem für Boris Nadeschdin. Deutlich mehr als 200.000 Menschen sind das hohe persönliche Risiko eingegangen, zu seinen Kontaktpunkten zu gehen und seine Kandidatur mit ihrer Unterschrift zu unterstützen.

Und angesichts des damit verbundenen Risikos muss man die Zahl seiner Unterstützer sicher multiplizieren. Denn dieser Staat ist so umfassend und brutal repressiv geworden, dass viele Menschen zu viel Angst haben, um zu unterschreiben.

"Gegenkandidaten haben kein politisches Gewicht"

tagesschau.de: Es gibt formell drei Gegenkandidaten - Nikolaj Charitonow von der Kommunistischen Partei, der Duma-Vizevorsitzende Wladimir Dawankow mit seiner Partei "Neue Leute" und Leonid Slutskij von der rechtspopulistischen LDPR. Werden die diesem Etikett auch nur ansatzweise gerecht?

Fischer: Nein, das werden sie nicht. Es sind Leute aus der zweiten Reihe. Der Kreml hat offensichtlich versucht, bekanntere politische Figuren aus der Kommunistischen Partei von "Neue Leute" zur Kandidatur zu bewegen in der Hoffnung, dass diese stärker mobilisieren und damit zur Wahlbeteiligung beitragen können. Die haben dieses Ansinnen offenbar abgelehnt, weil in dieser Wahl an Reputation nichts zu holen ist. Stattdessen treten jetzt Charitonow und Dawnankow an sowie Slutskij, dem es nicht einmal ansatzweise gelingt, in die Fußstapfen seines Vorgängers Wladimir Schirinowski zu treten, der lange erfolgreich die Rolle eines extremistischen Oppositionsclowns innerhalb des politischen Systems gespielt hat.

Diese Kandidaten haben kein politisches Gewicht, es ist eine reine Simulation von Wettbewerb. Deshalb liegen sie auch in den Umfragen weit unter fünf Prozent. Das unterscheidet diese Wahl von allen vorausgegangenen Präsidentschaftswahlen. Bei ihnen war immer klar: Es wird der Kandidat der Macht gewinnen, also meistens Putin, 2008 Dimitri Medwedew. Aber neben den systemischen Gegenkandidaten gab es immer noch ein oder zwei Akteure der außersystemischen Opposition, die antreten konnten. Bei der diesjährigen Wahl wird nicht einmal das zugelassen.

"Der Kontext ist heute dikatatorisch"

tagesschau.de: Wenn man einen Vergleich zieht mit den vorherigen Wahlen, wo ist diese Präsidentenwahl im Ausmaß von Manipulation und Suppression einzuordnen?

Fischer: Aus meiner Sicht ist es die manipulierteste Wahl, die im postsowjetischen Russland stattgefunden hat. Auf der prozeduralen und technischen Ebene hat das Regime seine Instrumente zur Manipulation noch mal weiterentwickelt. Der Wahltag ist nicht mehr ein Tag, sondern es sind drei Tage. Das öffnet Tür und Tor für jede Menge Manipulationen. Die elektronische Wahl ist ausgeweitet worden. Auch hier kann man davon ausgehen, dass massiv manipuliert werden wird. Aber die große Manipulation findet nicht am Wahltag statt, sondern im Vorfeld der Wahlen - mit einem vollkommen manipulierten, kontrollierten Kandidatenfeld. Der Kontext dieser Wahl ist das Ergebnis eines langen Trends, der sich 2022 noch mal drastisch beschleunigt und vertieft hat. Russland ist heute eine Diktatur. Es ist eine Wahl in diesem diktatorischen System. Es herrscht Krieg, es herrscht seit 2022 Kriegszensur, es gibt überhaupt keine unabhängigen Medien mehr.

Und es gibt keine unabhängige Wahlbeobachtung mehr. 2018 gab es noch eine OSZE-Wahlbeobachtermission - nicht aber in diesem Jahr. Die zivilgesellschaftliche Wahlbeobachtung, die sich in der Auseinandersetzung mit dem immer autoritärer werdenden Regime in den vergangenen 15 Jahren stark professionalisiert hat, ist auch gezielt zerschlagen worden. Das alles - zumal unter den Bedingungen eines vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine - fügt sich zum Bild der am stärksten manipulierten Wahl der vergangenen 30 Jahre.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das ARD-Morgenmagazin am 15. März 2024 um 06:14 Uhr.