Nach Kämpfen in Mariupol Was aus den Asowstal-Kämpfern wurde
Vor einem Jahr ergaben sich die letzten ukrainischen Verteidiger des Asowstal-Werks den russischen Angreifern - viele sind noch heute in Gefangenschaft. Eine nicht endende Zerreißprobe für die Angehörigen.
Am 20. Mai 2022 endete der Kampf um das Asowstal-Werk in Mariupol. Die letzten ukrainischen Soldaten legten ihre Waffen nieder und ergaben sich. Viele Kriegsgefangene - darunter die Kommandeure - konnten mittlerweile ausgetauscht werden. Sie berichten von unmenschlichen Zuständen, von Folter und kaum Nahrung. Viele Soldaten kommen stark abgemagert aus der Gefangenschaft. Wie klappt ihre Reintegration? Und wie geht es denjenigen, die noch immer auf Angehörige warten?
Jeder Tag könnte unser letzter Tag sein. Das könnte für mich das letzte Gespräch sein. Aber wen kümmert das?
Das sagte Illia Samoilenko vor etwa einem Jahr in den tagesthemen. Der Soldat aus dem umstrittenen Regiment Asow war damals live zugeschaltet - aus dem umkämpften Asowstal-Werk in Mariupol. Wochenlang schon hatten sich die ukrainischen Truppen in den unterirdischen Bunkern verschanzt. Dann scheint ihre Situation aussichtslos.
"Wir können uns den Russen nicht ergeben, denn das würde für uns den unmittelbaren Tod bedeuten. Sie würden uns sofort verurteilen oder wir würden lebenslang ins Gefängnis gehen oder sie würden uns exekutieren, wie es auch schon anderen Soldaten passiert ist", sagte Samoilenko damals.
Unmenschliche Haftbedingungen
Nur eine Woche nach diesem Interview legen die Soldaten ihre Waffen nieder - auf Befehl der ukrainischen Regierung, heißt es. Seitdem konnten Hunderte Männer und Frauen aus der Kriegsgefangenschaft befreit werden. Die befürchteten Schauprozesse oder Hinrichtungen der Asow-Kommandeure blieben aus.
Angehörige wie Anna Naumenko aber berichten von unmenschlichen Haftbedingungen und werfen Russland Verstöße gegen die Genfer Konvention vor: "Die körperliche Verfassung der Jungs spricht für sich. Beim letzten Austausch war ein Mann dabei, der mehr als vierzig Kilo verloren hat, Dimitrij hat siebzehn Kilo verloren", erzählt Naumenko.
Schläge, bis die Knochen brechen
Naumenkos Mann Dmitrij konnte erst vor Kurzem aus der Gefangenschaft befreit werden. Doch die allermeisten, mit denen Dmitrij im Asowstal-Werk kämpfte, warten bis heute auf ihre Freilassung. Dmitrij berichtete seiner Frau von systematischer Folter, von Schlägen bis die Knochen brechen, von Dunkelheit und Hunger in russischer Gefangenschaft.
Aber das sei für ihn nicht das Schlimmste gewesen, erzählt seine Frau: "Als am Ende der Kämpfe um das Asowstal-Werk die Bunker eingebrochen sind und es viele Tote und Verletzte gab - das war schwieriger für ihn." Das habe mehr Spuren hinterlassen als die Folter, meint Naumenko. Auch tägliche Prügel seien für ihren Mann psychisch nicht so schwer zu ertragen gewesen wie das, was im Asowstal-Werk passiert sei.
Angehörige kämpfen für Freilassungen
Anna Naumenko ist dennoch überrascht. Als Dmitrij nach Hause kam, sei es ihm trotz allem erstaunlich gut gegangen, berichtet sie. Gemeinsam mit weiteren Angehörigen kämpft Naumenko jetzt weiter für die Freilassung der anderen Gefangenen. Sie versuchen, vor allem alte oder schwer verletzte Soldaten auf die Austauschlisten des ukrainischen Militärgeheimdienstes zu setzen.
Aber eine Garantie kann ihnen niemand geben, sagt etwa Tamara Prozenko. Auch ihr Freund Oleksandr ist in Kriegsgefangenschaft. "Es ist russisch Roulette, wer ausgetauscht wird und wer nicht. Wirklich jeder Austausch ist schrecklich", beklagt sie. Ihr Freund habe schon zwei mal im Bus nach Hause gesessen - dann hätte man ihn einfach wieder zurück in die Gefangenschaft geführt. "Ein paar Minuten oder Stunden vor dem Austausch wurde er einfach aus dem Bus genommen, ohne Erklärung", so Prozenko.
"Je länger, desto schlimmer"
Oleksandr erlebte seinen 20. Geburtstag in Kriegsgefangenschaft. Zuletzt wurde er von Mitgefangenen in einem Lager in Russland gesehen - in schlechtem gesundheitlichen Zustand, berichtet Prozenko. Manchmal macht sich die 21-Jährige Vorwürfe, nicht genug für seine Freilassung zu unternehmen.
"Es ist schwer, vor allem, wenn man sieht, in welchem Zustand die Jungs ankommen. Du verstehst: je länger, desto schlimmer. Vor allem, wenn sie immer wieder verlegt werden", beschreibt Prozenko die Situation. In jeder neuen Haftanstalt würden die Männer aufs Neue gefoltert und verhört.
Der letzte große Gefangenenaustausch fand im April statt. Doch Oleksandr war wieder nicht unter den 130 Ukrainern, die an diesem Tag nach Hause zurückkehrten. Eine große Belastung für seine Freundin Tamara - wochenlang kommt sie kaum aus dem Bett. Sie müsse weiter warten, sagt sie. Und bereite sich auf das Schlimmste vor.