Häftlinge im Kampf für die Ukraine Wer den Krieg überlebt, ist ein freier Mann
In einer speziellen Einheit kämpfen ukrainische Häftlinge an der Front. Für sie ist der Krieg eine zweite Chance. 9.000 Insassen haben schon den Antrag gestellt, ihr Land verteidigen zu dürfen. Doch nicht alle werden genommen.
Unweit der Front, in der Region Donezk, trainieren die Männer von "Alcatraz" für den Krieg. Die Einheit gehört zur 93. Brigade und besteht nahezu ausschließlich aus ehemaligen Häftlingen.
Denis ist einer von insgesamt 6.900 verurteilten Straftätern, die frühzeitig aus der Haft entlassen wurden, um in der ukrainischen Armee zu kämpfen. Der junge Mann mit den auffälligen Tätowierungen im Gesicht steht kurz vor seinem ersten Fronteinsatz.
"Ich bin nicht hierhergekommen, um zu sterben, sondern um zu töten", sagt Denis mit fester Stimme. Er habe schon immer zu den Angriffsbrigaden gewollt, sagt er und gehört damit zu einer Minderheit unter ukrainischen Männern.
9.000 Anträge von Häftlingen
Nicht nur, dass sich in der Ukraine kaum einer mehr freiwillig zum Militärdienst meldet. Gerade vor der Infanterie haben viele große Angst. Denn diese Männer erfüllen die wohl gefährlichsten und schwierigsten Aufgaben im Abwehrkampf gegen Russland.
Sie kämpfen in den Gräben an vorderster Front, werden mit Mörsergranaten und Artillerie beschossen oder von Drohnen gejagt. Die Personalkrise der ukrainischen Streitkräfte ist vor allem eine Krise der Infanterie.
Und trotzdem: Seit Mai 2024 haben fast 9.000 ukrainische Häftlinge einen Antrag auf vorzeitige Entlassung gestellt, um in der Armee zu kämpfen. Die Rechnung ist so simpel wie brutal. Wer den Krieg überlebt, ist danach ein freier Mann.
Keine Mörder oder Vergewaltiger
"Für sie ist das eine zweite Chance", erklärt Bataillonskommandeur Walentyn. Der 45-Jährige ist als einziger hier nicht wegen eines Verbrechens verurteilt worden. Eine Einheit aus ehemaligen Häftlingen zu kommandieren, sei einfacher, meint Walentyn. Denn wer einmal im Gefängnis gewesen sei, sei disziplinierter und an Ordnung gewöhnt.
Walentyn steht vor einer anderen Herausforderung: "Sie sind es gewohnt, kontrolliert zu werden. Sie befolgen Befehle, ohne nachzudenken." Das müsse sich ändern, betont er.
Verurteilt wurden die Männer bei Alcatraz wegen Diebstählen, Körperverletzung oder Raubüberfällen. Mörder, Vergewaltiger oder Menschen, die wegen Terrorismus, Korruption oder Hochverrat verurteilt wurden, haben nach ukrainischem Gesetz kein Recht auf frühzeitige Entlassung.
"Von Fitness hängen 50 Prozent des Erfolges ab"
Als Aleksandr im vergangenen Jahr von dem neuen Gesetz erfuhr, stellte er sofort einen entsprechenden Antrag. Jeder Antrag muss von einem Richter überprüft und genehmigt werden. Er kämpfe vor allem für seine Familie, damit in seiner Heimatstadt Dnipro nicht irgendwann Verbrechen wie in Butscha geschehen, sagt er.
Aleksandr ist einer der ersten bei Alcatraz und kann zumindest auf vier Jahre Erfahrung im Donbass-Krieg ab 2014 zurückgreifen. Doch die Kämpfe von damals seien mit dem Krieg heute nicht zu vergleichen. "Heute wirst du mit allem beschossen, was sie haben. Das Wichtigste sind gute Ohren und alles genau zu beobachten. Von jeder Sekunde hängt dein Leben ab."
Der Einsatz von FPV-Drohnen (First Person View, also etwa: Ich-Perspektive) verändert die Kriegsführung in der Ukraine enorm, betont auch Wladislaw. Gemeinsam mit Aleksandr bildet er die gerade frisch entlassenen Häftlinge aus. Körperliche Fitness sei wichtig, um schnell ausweichen zu können, um von gegnerischen Drohnen mit ihren Sprengsätzen nicht erwischt zu werden. "Davon hängen 50 Prozent unseres Erfolges ab", sagt Wladislaw.
"Ausschlaggebend ist die Motivation"
Mit den russischen Wagner-Truppen, die zeitweise massenhaft in russischen Gefängnissen rekrutierten, ist die ukrainische Einheit nicht zu vergleichen. Ausschlaggebend sei die Motivation, für sein Land kämpfen zu wollen, sagt Kommandeur Walentyn.
Nicht jeder werde genommen. "Wenn wir die richtigen Leute auswählen und effizient arbeiten, dann hat dieses Projekt aus meiner Sicht seine Existenzberechtigung", meint der Kommandeur.
Denis freut sich über die zweite Chance, die ihm die Einheit gegeben habe. "Ich genieße den Kampf. Wir kommen rein, geben denen aufs Maul und gehen schnell wieder raus." Seinen ersten Kampfeinsatz überlebt Denis. Er habe sich gut geschlagen, heißt es nachher aus der Truppe.