Abwehrkampf gegen Russland Ein gefährliches Patt für die Ukraine?
Der ukrainische Oberbefehlshaber Saluschnyj konstatiert ein Patt im vom Russland entfachten Krieg. Droht ein langer Stellungskrieg - und was braucht die Ukraine, um in die Offensive zu kommen?
Mehr als einhundert Jahre alt sind die Bilder, an die sich der ukrainische Oberkommandierende Walerij Saluschnyj derzeit erinnert fühlt. Damals, im Ersten Weltkrieg, kämpften Millionen von Soldaten in den Schützengräben in Belgien und Frankreich. Trotz des Einsatzes von modernen Panzern, Flugzeugen und anderen neuartigen Waffen konnten die Weltkriegsarmeen nur selten größere Durchbrüche erreichen.
Heute stehen sich in Europa die russischen Angriffstruppen und die ukrainische Armee gegenüber. Erneut haben sich beide Seiten eingegraben, große Geländegewinne wurden seit Monaten nicht mehr erzielt. "Genau wie im Ersten Weltkrieg haben wir ein Technologielevel erreicht, das uns in ein Patt versetzt", sagt Saluschnyj der britischen Zeitschrift "The Economist".
Er warnt vor den Risiken eines Stellungskrieges. Dieser könne sich "jahrelang hinziehen" und "den ukrainischen Staat zermürben".
Stellungskrieg oder Bewegungskrieg?
Für den Militäranalysten Franz-Stefan Gady vom Institute for International Strategic Studies sind die Kämpfe auf den ukrainischen Schlachtfeldern allerdings noch kein klassischer Stellungskrieg. Er beobachtet weiterhin eine "dynamische, sich noch entwickelnde Lage". Außerdem sei es - nicht nur in der Ukraine - in allen Militärkampagnen normal, dass sich unterschiedliche Phasen des Krieges abwechseln.
Demzufolge können Stellungskriege früher oder später auch wieder in Bewegungskriege übergehen. Im bisherigen Kriegsverlauf seien tiefe Vorstöße "in den Rücken des Feindes" aber ohnehin "eher die Ausnahme gewesen", so Gady.
Der Militäranalyst vermutet, dass der ukrainische Oberkommandierende Saluschnyj dennoch das Ziel verfolge, wieder zu einem Bewegungskrieg überzugehen. Mit seinen Äußerungen wolle Saluschnyi bessere Bedingungen für die Ukraine schaffen, sagt Gady: beispielsweise durch mehr westliche Militärausbildung, moderne Militärtechnologien und Nachschub für Artilleriesysteme.
Die anhaltende Frage nach Waffenlieferungen
Auch Nico Lange, Senior Fellow der Münchener Sicherheitskonferenz, geht vom ukrainischen Ziel aus, wieder mehr Bewegung auf die Schlachtfelder im Osten und Süden des Landes zu bringen. Dafür brauche die Ukraine aber unter anderem "Kampfflugzeuge und Drohnen, Werkzeuge zur Bekämpfung der russischen Artilleriesysteme und eine bessere elektronische Kampfführung".
Ob es zu einem langanhaltenden Stellungskrieg in der Ukraine kommen werde, hänge davon ab, "was und wie schnell wir liefern", so Lange.
Was die Ukraine bisher erreicht hat
Seit rund fünf Monaten versucht die ukrainische Armee in einer Offensive, Gelände zurückzuerobern. Begrenzte Durchbrüche durch russische Befestigungen gelangen bei einigen Ortschaften in den Regionen Saporischschja und Donezk. Auch gelang es der Ukraine immer wieder, Angriffe auf weit entfernte russische Militärpunkte hinter der Front durchzuführen.
Raumgreifende Rückeroberungen ähnlich wie im vergangenen Jahr blieben diesen Sommer allerdings aus. Auch, weil sich die russischen Truppen hinter breiten Minengürteln verschanzt haben und selbst immer wieder angreifen, derzeit insbesondere rund um die Stadt Awdijiwka.
Zu der ukrainischen Offensive sagt Lange, dass "der Erfolg nicht nur in Quadratmetern gemessen werden kann". Laut ihm ist die Offensive "viel erfolgreicher, als viele Unkenrufe sagen". Zu den militärischen Erfolgen zähle beispielsweise auch, dass Getreideschiffe wieder aus der Hafenstadt Odessa auslaufen können und russische Verteidigungsstellungen auch ohne Luftüberlegenheit gebrochen werden konnten.
"Keine Alternative"
Für den Militäranalysten Gady sind hingegen die "geographischen operativen Ziele bis dato nicht erreicht". Weder wurde das russisch besetzte Territorium in zwei Teile gespalten, noch wurden Nachschublinien abgeschnitten. Noch wichtiger als die Fläche des rückeroberten Geländes sei in dieser Kriegsphase aber die "Abnutzung an Menschen und Material", so Gady.
Eine Bewertung dessen sei allerdings nicht möglich, da Details und Zahlen zu den Abnutzungen der beiden Armeen fehlen. Er beobachtet, dass die russischen Streitkräfte "enorme Verluste" während der ukrainischen Offensive erlitten hätten. Zu dieser hätte es für die Ukraine im Abnutzungskrieg auch nur "wenige Alternativen gegeben", um der russischen Armee keine Verschnaufpause zu geben.
Die Kämpfe im Winter
Beide Experten, Gady und Lange, gehen davon aus, dass die Kämpfe in den anstehenden Wintermonaten weitergehen werden. Gady rechnet mit "lokalen Angriffen und Gegenangriffen", aber weniger mit großräumigen Offensiven. Beide Seiten werden versuchen, ihre besetzten Positionen so weit wie möglich zu halten, so Gady. Ein Stellungskrieg sei zwar möglich, aber "nicht komplett erstarrt".
Grundsätzlich geht Gady von "schwierigen Monaten für die Ukraine" aus. Grund dafür seien Lücken im Artilleriemunitionsbestand und bei der Flugabwehr sowie Engpässe bei gut ausgebildetem Personal.
Erst für die zweite Jahreshälfte 2024 sieht er wieder "ein Licht am Ende des Tunnels", zum Beispiel wegen der westlichen Ausbildungsprogramme für ukrainische Soldaten und wegen angekündigter Waffenlieferungen.
Was bewirken die F-16?
Zu einer anderen Einschätzung kommt Lange. Er erwartet in den kommenden Monaten "Veränderungen zugunsten der Ukraine". Zum einen, so Lange, wegen der bald einsetzbaren F-16-Kampfflugzeuge, die mehrere europäische Länder der Ukraine zugesagt haben. Zum anderen verfüge die Ukraine über eine höhere Mobilität als im Vorjahr, dank zahlreicherer Fahrzeuge auf Ketten.
Außerdem warnt Lange davor, "historische Vorstellungen vom Winterkrieg" auf den aktuellen Konflikt zu übertragen. Die Kälte würde Russland "nicht automatisch helfen".
Moderne Militärtechnologie entscheidend
Einig sind sich Lange und Gady darin, dass moderne Militärtechnologie eine Schlüsselrolle in den zukünftigen Kämpfen einnehmen wird. Auch der ukrainische General Saluschnyj glaubt laut "The Economist", dass "Technologie entscheidend sein wird", und zwar nicht durch eine einzelne, neue Innovation, sondern "eine Kombination aller bereits existierenden technischen Lösungen".
Laut Lange meint Saluschnyj damit die "datengetriebene Kriegsführung, Präzisionswaffen wie US-amerikanische ATACMS oder britische Storm Shadows, aber auch massenweise Luft- und Überwasserdrohnen". Insbesondere die weitreichenden Waffen können, wenn sie effektiv im Verbund mit anderen Waffen eingesetzt werden, große taktische Möglichkeiten eröffnen, so Militäranalyst Gady.
Aber es sei eine Illusion zu glauben, dass "einzelne Waffen oder einzelne Raketen alleine entscheidend sein werden".