EU-Antrag der Ukraine Beitrittskandidat im Eiltempo?
Vor der Entscheidung über das Beitrittsgesuch der Ukraine gehen die Einschätzungen der EU-Länder in dieser Frage noch weit auseinander. In Friedenszeiten hätte die Ukraine wohl keine Chance auf eine Mitgliedschaft.
Es könnte jetzt ganz schnell gehen. In Brüssel wird damit gerechnet, dass die Kommission noch in dieser Woche ihre Einschätzung zum Beitrittsantrag der Ukraine abgibt. Um offene Fragen zu klären, war Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Wochenende nach Kiew gereist.
Anschließend lobte sie Fortschritte der Regierung, sah aber noch Reformbedarf bei den Themen Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung. Auch wenn die Empfehlung der Kommission positiv ausfällt - entscheiden müssen die Staats- und Regierungschefs. Der Antrag der Ukraine ist Thema beim Gipfel in einer Woche.
Ukrainer auf Werbetour
Dann ist ein einstimmiges Votum nötig. Weil es auf jede Stimme ankommt, hat Wolodymyr Selenskyj seine engsten Mitarbeiter in Europas Hauptstädte geschickt, auf Werbetour. Er wolle gar nicht verbergen, erklärte der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk vorige Woche im Europaparlament in Straßburg, dass er bei seinen Reisen durch Europa ein klares Ziel verfolge: "Wir brauchen den Kandidatenstatus! Das muss unser Volk von der EU hören, als Botschaft, dass unser Tun nicht umsonst ist."
Nach seiner Rede stürmten Abgeordnete fast aller Fraktionen auf ihn zu, alle wollten ein Selfie mit ihm. Die Unterstützung der Europaabgeordneten hat die Ukraine. Auch die Kommission hat geholfen beim Ausfüllen der nötigen Antragsformulare - ein durchaus ungewöhnlicher Vorgang, heißt es in Diplomatenkreisen.
Mitgliedsländer gespalten bei Beitrittsfrage
In den Mitgliedsländern liegen die Einschätzungen noch weit auseinander. Während die meisten osteuropäischen Länder keine Zeit verlieren wollen, geht es einigen Ländern zu schnell. Wortführer der Skeptiker ist Emmanuel Macron. Der französische Präsident hält es für keine gute Idee, mitten im Krieg über Beitritt zu verhandeln. "Selbst wenn wir der Ukraine morgen den Kandidatenstatus verleihen würden", sagte Macron in einer Rede zum Europatag am 9. Mai voraus, wisse jeder genau, dass das Verfahren dauern werde, "in Wahrheit mehrere Jahrzehnte".
Seit langem schon mahnt Frankreichs Präsident die Partner, lieber die Handlungsfähigkeit in der EU zu vertiefen, statt sie durch Erweiterung vor neue Belastungsproben zu stellen. Aber Macron sieht auch die Gefahr, dass Länder wie die Ukraine ohne Anbindung an die EU abdriften könnten. Deshalb schlägt er eine Art privilegierte Partnerschaft vor, eine "europäische politische Gemeinschaft", offen nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Georgien, Moldawien und die Westbalkan-Länder.
Status zwischen drinnen und draußen?
Dass die Union den vielen in die EU drängenden Ländern eine Option jenseits der Vollmitgliedschaft bieten müsste, einen Status zwischen drin sein und draußen bleiben, das wird seit mehr als 20 Jahren diskutiert. Die östliche Partnerschaft war ein Schritt in die Richtung.
Aber Macron geht weiter. Er will den Ländern deutlich mehr Vernetzung und Kooperation anbieten, im Bereich der Sicherheit, bei der Energieversorgung, beim Transport, dem Aufbau der Infrastruktur und auch beim Thema Bewegungsfreiheit der Personen. Solch eine Gemeinschaft sei auch offen für Länder, "die die EU verlassen haben", fügte er im Nebensatz hinzu. Da bisher nur ein einziges Land die EU verlassen hat, konnte das als Stichelei gegen Macrons Lieblingsgegner Boris Johnson verstanden werden.
Der Rest war ernst gemeint. Der französische Präsident sucht Mitstreiter für seinen Plan. Er will Zeit gewinnen und den Druck aus der hoch emotional geführten Debatte über die Ukraine als Beitrittskandidat nehmen. Bundeskanzler Olaf Scholz zeigte sich in einer ersten Reaktion nicht abgeneigt: Macrons Vorschlag sei "ein sehr interessanter Vorschlag, mit der großen Herausforderung umzugehen, die wir haben".
Was aber bedeutet das? Wird Scholz sich bei seiner geplanten Reise nach Kiew für oder gegen den Beitrittskandidatenstatus aussprechen? Präsident Selenskyj hat die Latte hoch gehängt. Er erwarte, dass Scholz persönlich die EU-Mitgliedschaft der Ukraine unterstützt, sagte der ukrainische Präsident im ZDF. Wie der Kanzler sich entscheidet, wollte der SPD-Parteivorsitzende Lars Klingbeil nicht voraussagen, als er Anfang der Woche zu Gesprächen in Brüssel war.
Als SPD-Parteichef wurde Klingbeil deutlicher: "Wir wollen sie in der Europäischen Union haben." Die Ukraine kämpfe für europäische Werte. Und deshalb sei es gut, dem Land jetzt einen Weg in die Union aufzuzeigen. Klingbeil verwies allerdings auch darauf, dass die Kopenhagener Kriterien zu befolgen sind, "sie dürfen an keiner Stelle ausgehebelt werden".
Die Kopenhagener Kriterien sind seit 1993 Bedingungen für die Eintrittskarte in den Club. Funktionierender Rechtsstaat mit Minderheitenschutz, transparente Marktwirtschaft - auch Länder, die erst einmal Beitrittskandidat werden wollen, müssen dafür schon die Grundlagen liefern. Aus Sicht mehrerer EU-Länder ist die Ukraine davon aber weit entfernt.
"Korruption auf höchster Ebene"
Vor dem Krieg landete das Land auf der Korruptionsliste von Transparency International ganz weit hinten - auf Platz 122 von 180 Ländern. Die Liste spiegelt das von den Bürgern wahrgenommene Ausmaß der Korruption und gilt als Reaktion auf die grassierende Oligarchen-Wirtschaft.
In den Pandora Papers, der investigativen Recherche mit geleakten Daten aus weltweiten Steueroasen, finden sich viele Ukrainer, darunter auch Präsident Selenskyj und seine Mitstreiter mit Briefkastenfirmen. Noch Ende 2021 veröffentlichte der Europäische Rechnungshof einen Sonderbericht mit einem desaströsen Urteil. 20 Jahre habe die EU die Ukraine unterstützt, mit 15 Milliarden Euro allein seit 2014, damit politische Reformen umgesetzt werden können. Aber der Einfluss von Oligarchen und korrupten Staatsbeamten sei nicht zurückgegangen. Die EU-Hilfen seien schlicht "unwirksam gegen Korruption auf höchster Ebene".
Manche Länder halten sich nicht an die Regeln
Nicht nur der niederländische Ministerpräsident Marc Rutte sieht die Probleme mit Korruption und Rechtsstaat kritisch. Er will "no short cuts" auf dem Weg zur Mitgliedschaft. Auch andere erinnern sich, dass bei der letzten Osterweiterung Länder aufgenommen wurden, die - wie Bulgarien - die Regeln nicht erfüllten oder - wie Ungarn - später EU-Gelder zur Selbstbereicherung der herrschenden politischen Klasse nutzten.
In Friedenszeiten hätte die Ukraine wohl keine Chance gehabt, Beitrittskandidat zu werden. Aber der Krieg hat die Verhältnisse geändert. Das Land kämpft ums Überleben als Nation - wer von den Staats- und Regierungschefs wird sich in einer solchen Situation gegen die Verleihung des Kandidatenstatus stellen? Die Frage wird sich in einer Woche stellen, beim EU-Gipfel in Brüssel.