Gegenoffensive im Osten und Süden Ukraine rückt offenbar weiter vor
Die Ukraine meldet weitere Erfolge ihrer Gegenoffensive. Mittlerweile hat die Armee eigenen Angaben nach 3000 Quadratkilometer zurückerobert. Präsident Selenskyj hofft auf einen "Wendepunkt" im Winter.
Die ukrainische Armee hat weitere Erfolge ihrer Gegenoffensive verkündet. Militärchef Walerij Saluschnjy teilte mit, dass südöstlich von Charkiw etwa 3000 Quadratkilometer Land zurückerobert wurden. Einige Verbände befänden sich dort noch etwa 50 Kilometer von der russischen Grenze entfernt.
Ein am Sonntag veröffentlichtes Video zeigt Soldaten, die in Tschkalowske die ukrainische Flagge hissen. "Von Charkiw aus sind wir nicht nur Richtung Süden und Osten vorgerückt, sondern auch nach Norden", erklärte Saluschnyj auf Telegram.
Selenskyj: Wendepunkt im Winter
Die ukrainische Armee war in der Region im Laufe der vergangenen Woche so weit vorgestoßen, das russischen Truppen bei Isjum die Einkesselung drohte. Das russische Verteidigungsministerium hatte am Samstag den Rückzug der dortigen Verbände bekanntgegeben.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj pries den russischen Rückzug als Durchbruch in dem seit sechs Monaten andauernden russischen Angriffskrieg. "Ich glaube, dieser Winter ist der Wendepunkt, und er kann zur schnellen Befreiung der Ukraine führen", sagte Selenskyj am Samstagabend. "Wir sehen, wie sie in einige Richtungen fliehen", sagte der Präsident mit Blick auf die russischen Streitkräfte. "Wenn wir noch ein bisschen stärker mit Waffen wären, würden wir noch schneller vorankommen."
Offiziell hat die ukrainische Regierung die Wiedereinnahme von Isjum bislang nicht verkündet. Aber Selenskyjs Stabschef Andrij Jermak veröffentlichte auf Twitter ein Foto von ukrainischen Truppen vor der Stadt und fügte ein Trauben-Emoji hinzu, "Isjum" ist das ukrainische Wort für "Trauben".
Das russische Verteidigungsministerium hatte den Rückzug der Verbände in der Region Charkiw damit begründet, dass Einheiten im angrenzenden Gebiet Donezk verstärkt werden sollen. Viele Experten gehen jedoch davon aus, dass die Russen angesichts des ukrainischen Vorstoßes im Charkiwer Gebiet zuletzt so stark unter Druck geraten sind, dass sie sich zur Flucht entschieden haben.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spottete in seiner abendlichen Ansprache: "In den vergangenen Tagen hat uns die russische Armee ihre beste Seite gezeigt - ihre Rückseite." Es sei "eine gute Wahl für sie, zu fliehen".
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Ausgangspunkt für weitere Rückeroberungen?
Nach Ansicht des Militärexperten Oleh Schdanow könnten die Gewinne der Ukraine den Weg ebnen in die Region Luhansk, die von Russland seit Anfang Juni gehalten wird. Luhansk, das zusammen mit der Region Donezk den industriell geprägten Donbass der Ukraine bildet, liegt rund 340 Kilometer südöstlich von Charkiw.
Es war von Anfang an das erklärte Ziel Russlands, vor allem dieses Gebiet einzunehmen, das teilweise bereits seit 2014 von prorussischen Separatisten kontrolliert wird. "Wenn Sie sich die Karte anschauen, ist es logisch anzunehmen, dass sich die Offensive sich Richtung Swatowo, Starobelsk, Siewerodonezk und Lyssytschansk entwickelt", sagte Schdanow. "Das sind zwei vielversprechende Richtungen."
Weiß schraffiert: Vormarsch der russischen Armee. Grün schraffiert: von Russland unterstützte Separatistengebiete. Krim: von Russland annektiert.
Offensive macht monatelangen russischen Vormarsch wett
Laut US-Experten hat die ukrainische Armee innerhalb von fünf Tagen mehr Gelände zurückgewonnen als die russischen Truppen insgesamt seit April besetzt haben. "Die Befreiung von Isjum wird der größte militärische Erfolg der Ukraine seit dem Sieg in der Schlacht vor Kiew im März", urteilte das Institute for the Study of the War (ISW) in seiner Lageanalyse. Der von Russland geplante Vormarsch auf den Donbass sei von Norden her gescheitert, meinten die Experten. Mit der Einnahme von Isjum sei wahrscheinlich innerhalb von 48 Stunden zu rechnen, wenn sie nicht bereits geschehen sei.
Ähnlich schätzt der britische Militärgeheimdienst die Lage ein: Die Ukraine habe in den vergangenen 24 Stunden bedeutende Fortschritte bei ihrer Gegenoffensive in der Region Charkiw im Osten gemacht. Das russische Militär habe wahrscheinlich Einheiten von dort abgezogen, heißt es im jüngsten Geheimdienstbericht. Allerdings hielten Kämpfe rings um die Städte Kupjansk und Isjum an.
Trotz des Rückzugs greifen russische Streitkräfte nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau Stellungen der Ukraine in der Region Charkiw an. Die Angriffe erfolgten durch Luftlandetruppen, Raketen und Artillerie, teilte das Ministerium in sozialen Medien mit. Eine unabhängige Überprüfung der Angaben ist derzeit nicht möglich.