Ukrainischer Vorstoß auf Kursk Überraschungsangriff mit unklarem Zweck
Der ukrainische Angriff auf russisches Gebiet habe nicht nur den Kreml, sondern auch westliche Partner überrascht, sagt Militärexperte Gady. Das Kalkül dahinter sei fraglich - denn den Frontsoldaten bringe er keine Entlastung.
tagesschau: Ukrainischen Einheiten ist es gestern gelungen, in der Kursker Oblast auf russisches Gebiet vorzustoßen und dort nicht nur Militärschläge auszuführen, sondern auch Chaos und Schrecken zu verbreiten. Was ist über die Ereignisse bekannt?
Franz-Stefan Gady: Vieles, was an Informationen kursiert, ist noch ungesichert. Im Moment kann man sagen, dass der Angriff sich von anderen Angriffen auf russisches Territorium in der Vergangenheit unterscheidet: Er scheint zum einen sehr gut koordiniert zu sein. Die ukrainischen Streitkräfte haben den Kampf der verbundenen Waffen sehr effektiv ausgeübt. Das heißt: Flugabwehr, Raketenabwehr, die mit mechanisierten Verbänden hier vorzustoßen scheint, offenbar gepaart mit Kampfmitteln, die zur Folge hatten, dass es starke Störungen im elektromagnetischen Spektrum der russischen Kommunikationssysteme gab - was teilweise verhinderte, dass russische Verbände oder auch die zivilen Behörden in der Gegend um Kursk miteinander kommunizieren konnten. So ist der Ukraine ein Überraschungsangriff gelungen.
"Operationssicherheit lange erhalten"
tagesschau: Muss so eine Attacke nicht lange im Voraus geplant gewesen sein?
Gady: Selbstverständlich bedarf ein solcher Angriff längerer Vorbereitungszeit. Die Ukrainer haben es lange geschafft, die Operationssicherheit zu erhalten - das zeigt sich daran, wie koordiniert und effektiv die beteiligten Einheiten bislang vorgegangen sind.
Der Angriff zeigt: Obwohl es immer wieder Diskussionen über ein sogenanntes gläsernes Gefechtsfeld gibt, auf dem man quasi jede Bewegung jedes einzelnen Fahrzeugs, jedes einzelnen Soldaten genau verfolgen kann, ist es dennoch möglich, in dieser Phase des Krieges ein Überraschungsmoment zu erzielen - auf taktischer sowie auf strategischer Ebene. Nicht nur Russland, sondern auch viele Militäranalysten in den westlichen Partnerstaaten hatten nicht mit einem solchen Vorstoß gerechnet.
Es gibt Anzeichen, dass selbst Washington als wichtiger Verbündeter der Ukraine überrascht wurde - oder zumindest Teile der US-Streitkräfte: Bis dato konnten wir etwa nicht feststellen, dass die Ukraine in der Kursker Oblast Präzisionswaffensysteme wie HIMARS einsetzt.
tagesschau: Wie nachhaltig kann dieser Vorstoß sein? Schon kursieren Videos von Marder-Panzern, die direkt hinter der Grenze von russischen Drohnen ausgeschaltet werden.
Gady: Im Moment hat der Vorstoß der Ukraine noch Momentum. Wie lange dieser Angriff fortgesetzt werden kann und das Tempo aufrechterhalten werden kann, ist fraglich. Es ist davon abhängig, wie schnell die russischen Truppen sich neu gruppieren und zu einem Gegenangriff ansetzen.
Und dann ist die Frage: Was passiert, wenn sich kurzzeitig eine statische Front auf russischem Gebiet herausbildet? Wollen die Ukrainer das Territorium halten und verteidigen, als eine Art Faustpfand? Dann wird es relativ schnell Gleitbombenangriffe und andere größere Angriffe mit geballter russischer Feuerkraft geben - und bei denen werden die Russen Feuerüberlegenheit haben.
Hier geht es dann um Reserven: Hat die Ukraine genügend Munition, auch für Flug- und Raketenabwehr, genügend zusätzliche Artillerie und gepanzerte Fahrzeuge? Wenn eines von diesen Dominosteinchen fällt, dann wird es sehr schwierig.
"Zeigt die reaktive russische Militärkultur"
tagesschau: Welchen Zweck hat der Angriff für die Ukraine?
Gady: Der ist noch relativ unklar, wenngleich es unterschiedlichste Spekulationen gibt. Die größere Frage ist: Löst dieser Vorstoß in russisches Territorium irgendwelche bestehenden strategischen und operativen Probleme der ukrainischen Streitkräfte an anderen Teilen der Front? Ich würde sagen: Nein.
Ein Kalkül könnte sein, dass die ukrainische Militärführung hofft, russische Reserven binden zu können - oder zu erreichen, dass sie aus den umkämpften Abschnitten im Donbass abgezogen werden. Aber dagegen spricht, dass es in der Kursker Gegend Einheiten gibt, die schnell mobilisiert und dorthin verlegt werden können.
Schlechtestenfalls würde er eine Verlagerung der Probleme darstellen, die sich an anderen Frontabschnitten manifestiert haben: die fehlende Infanterie, die fehlenden Personalreserven. Hier zieht diese Aktion womöglich sogar den Ukrainern wichtige Reserven ab, die im Donbass um Tschassiw Jar und Pokrowsk benötigt werden, um dort die russischen Angriffe abzuwehren.
Es kann auch einfach darum gehen, die Moral der eigenen Truppen zu stärken, weil der Ukraine nun ein Achtungserfolg gelungen ist - nach Monaten, die von Berichten über schwindende Moral und Niederlagen im Kampf um Orte im Osten der Ukraine geprägt waren. Indem sie nun den Informationsraum dominiert, kann sie den westlichen Partnern signalisieren: Wir sind fähig, komplexe militärische Operationen zu planen und auch geheim durchzuführen. Und sie kann auch Russland zeigen: Wir können den Krieg auch auf euer Territorium bringen, das Momentum liegt bei uns.
Ich habe allerdings gestern mit einigen Soldaten Nachrichten ausgetauscht, die im Donbass kämpfen. Ihre Reaktionen auf den Vorstoß waren eher negativ, weil sie an der Front bislang keine merkliche Entlastung gespürt haben.
tagesschau: Ist es denkbar, dass die Ukraine sich mit dem Vorstoß aus militärischer Perspektive einen Bärendienst erwiesen hat?
Gady: Auf Seiten der russischen Führung gibt es jetzt ein gewisses embarassment, dass die Vorbereitung auf diesen Angriff oder der Angriff entweder wirklich nicht entdeckt wurden oder - was auf russischer Seite auch oft der Fall ist - zwar erkannt, aber nicht adäquat reagiert wurde. Das zeigt die oft sehr reaktive russische Militärkultur.
Es wird sicher eine Reaktion geben. Aber die wichtigste Gegenmaßnahme aus russischer Sicht wäre, jetzt noch einmal zusätzliche Kräfte aufzuwenden, um an der Front im Osten der Ukraine weiter in Richtung Pokrowsk vorzustoßen. Die größte Rache für diese Aktion wäre eine weitere Verstärkung der Luftkriegskampagne auf die ukrainische kritische Infrastruktur.
Es könnte natürlich noch zusätzliche Aktionen geben. Aber ich glaube, damit hat die Ukraine genug zu tun.
Das Gespräch führte Jasper Steinlein, tagesschau.de.