Angela Merkel und Wolodymyr Selenskyj (Archivbild: 18.06.2019)

Merkels Erinnerungen Wie die Ukraine auf die Altkanzlerin blickt 

Stand: 26.11.2024 03:29 Uhr

In der Ukraine ist der Blick auf Merkels Bilanz als Kanzlerin kritisch. Zwei Begriffe prägen die ukrainische Bilanz: Nord Stream 2 und NATO-Mitgliedschaft.  

Von Rebecca Barth, ARD Kiew

Zu Angela Merkel haben viele Ukrainer etwas zu sagen. Schon eine kurze Umfrage auf der Straße ergibt ein deutliches Bild mit einem Tenor.

Viktoria zum Beispiel meint, Merkel habe immer zuerst an die Interessen Deutschlands gedacht, und das sei für jeden Politiker selbstverständlich. Auch habe sie der Ukraine in einigen Fragen geholfen, zum Beispiel bei den Verhandlungen über den Krieg im Donbass. Aber, schränkt Victoria ein: "Gleichzeitig hat ihre Unterstützung für Nord Stream 2 gezeigt, dass sie unsere Interessen nicht immer berücksichtigt hat. Sie wollte uns helfen, aber nicht zu sehr, um nicht gegen die Interessen ihres Landes zu handeln."

Oleg erzählt, er habe Merkel immer als starke Politikerin empfunden. Doch auch er fügt hinzu: "Aber sie war nie unsere Verbündete. Das war für mich von Anfang an offensichtlich." Merkel sei eine gute Politikerin, aber nicht pro-ukrainisch gewesen. Auch Oleg erinnert an das Pipeline-Projekt mit Russland: "Ihr Verhalten bezüglich Nord Stream 2 hat gezeigt, dass sie keine ukrainischen Interessen vertritt."

Und Kateryna kommt zu dem Schluss, Merkel habe eine doppeldeutige Politik verfolgt. "Die Umgehung der Ukraine durch Nord Stream 2 ist so eine Maßnahme gegen die Ukraine. Als würde sie uns mit der einen Hand helfen und mit der anderen Hand mit Russland zusammenarbeiten."

Der Krieg veränderte die Sichtweise

Zwar genießt Merkel bei vielen Menschen in der Ukraine Respekt. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs aber werde die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin immer kritischer gesehen, erklärt der Osteuropa-Experte Andreas Umland: 

Während der Kanzlerschaft Merkels war die Bewertung Merkels besser, weil sie sich tatsächlich sehr bemüht hat, etwa bei den Minsker Verhandlungen, und sie sich engagiert hat. Ich glaube nicht, dass sie pro-russisch oder anti-ukrainisch war, wie die meisten der deutschen Politiker. Aber sie hat letztlich strategische Fehlentscheidungen getroffen, die diesen Krieg mit ermöglicht haben

Zwei Entscheidungen

Im Gedächtnis der Ukrainerinnen und Ukrainer bleiben da vor allem zwei Entscheidungen: gegen eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO und für den Bau der Gasleitung Nord Stream 2 – obwohl Russland schon damals die ukrainische Halbinsel Krim annektiert und einen Krieg in der Ostukraine entfacht hatte.

Nord Stream 2, mittlerweile stillgelegt und illegal gesprengt, war von Anfang an ein Problem für die Ukraine. Der damalige Präsident Petro Poroschenko erklärte während einer Pressekonferenz mit Merkel im Jahr 2019, die Diskussionen über Nord Stream 2 seien zwar nicht neu, aber man habe den Kampf gegen den Bau der Pipeline nicht aufgegeben - und biete deutschen Unternehmen eine Beteiligung an der Verwaltung des ukrainischen Gastransports an. 

Hätte der Krieg verhindert werden können?

Noch schwerwiegender aber für die Menschen in der Ukraine war der NATO-Gipfel 2008 in Bukarest. Merkel setzt sich damals gegen einen Aktionsplan für die Mitgliedschaft der Ukraine ein. Ein solcher Plan hätte zwar keine endgültige Entscheidung für einen Beitritt bedeutet – kommt aber politisch dem letzten Schritt vor der Mitgliedschaft gleich.

Eine positive Entscheidung im Jahr 2008 hätte den Krieg 2022 verhindern können, ist der heutige ukrainische Präsident überzeugt. Wolodymyr Selenskyj hatte sich 2022 gerade erst die Spuren der Massaker in Butscha vor Ort angeschaut, als er am Abend an den NATO-Gipfel in Bukarest erinnert:  

In den 14 Jahren seit dieser falschen Annahme hat die Ukraine eine Revolution erlebt, acht Jahre Krieg im Donbass, und jetzt kämpfen wir im schlimmsten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg um unser Leben. Ich lade Frau Merkel und Herrn Sarkozy ein, Butscha zu besuchen und zu sehen, wozu die Politik der Zugeständnisse an Russland in 14 Jahren geführt hat, um die gefolterten Ukrainerinnen und Ukrainer mit eigenen Augen zu sehen.  

Was Merkel verhindern und ermöglichen wollte

Merkel aber hatte mit ihrer Entscheidung 2008 eine Aggression Russlands gegen die Ukraine verhindern wollen. So schreibt sie es in ihrer Biografie, die die Wochenzeitung Die Zeit in Auszügen vorab veröffentlichte. Zwischen Aktionsplan und tatsächlicher Mitgliedschaft liegen oft Jahre. Die hätte Russland nutzen können, so Merkels Logik.

Andreas Umland widerspricht: 

Diese Argumentation Merkels wäre gerechtfertigt, wenn diese Zwischenzeit genutzt worden wäre von Deutschland, um die Ukraine zu unterstützen - beim Aufbau etwa einer Kriegswirtschaft, beim Aufbau einer Armee. Aber es hat eben keine Alternative zu dem Beitritt der Ukraine zur NATO gegeben, sondern es hat letztlich nur ein Überlassen der Ukraine und auch Georgiens in dieser Grauzone in Osteuropa gegeben und keine wirkliche kohärente Strategie.