EU-Türkei-Verhältnis Schwer irritiert
Die EU und die Türkei scheinen sich immer weiter zu entfremden. Das Protokoll eines Diplomatengesprächs mit einem hochrangigen türkischen AKP-Politiker offenbart tiefes Misstrauen.
Beim EU-Türkei-Gipfel in Varna deutete sich bereits an, wie weit Brüssel und Ankara derzeit politisch auseinanderliegen. Das Protokoll eines EU-Diplomaten zu einem Gespräch mit Volkan Bozkir, Abgeordneter der Erdogan-Partei AKP und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des türkischen Parlaments, macht noch einmal klar, dass es in außenpolitischen Fragen derzeit kaum Schnittmengen zwischen Ankara und den Regierungen der EU-Länder gibt. Aufgrund seiner Expertise sollte Bozkir wissen, wovon er spricht. Er dürfte mit seinen Ansichten auch nicht allzu weit vom türkischen Staatspräsidenten entfernt liegen.
Der AKP-Abgeordnete traf Ende März Botschafter und Diplomaten verschiedener EU-Länder in Ankara zum Mittagessen. In dem der ARD vorliegenden Protokoll wird Bozkir als "betont freundlich und verbindlich" beschrieben. Jedoch habe er "im Wesentlichen altbekannte AKP-Positionen" wiedergegeben und sich "teilweise in bizarren Verschwörungstheorien" verloren.
EU-Gipfel als positiv bewertet
So habe Bozkir, der in der Vergangenheit auch schon Minister für EU-Angelegenheiten im türkischen Kabinett war, das EU-Türkei-Treffen in Varna als positiv bewertet, weil es gelungen sei, den Dialog zu stärken und "die gegenseitigen Erwartungen an den Gipfel zu erfüllen".
Zur Erinnerung: EU-Ratspräsident Donald Tusk fasste Varna mit den Worten zusammen, "wenn Sie mich fragen, ob wir Lösungen oder Kompromisse erzielt haben, lautet meine Antwort nein".
Der türkische Präsident Erdogan und der EU-Ratsvorsitzende Tusk: Gestärkter Dialog?
"Infame Propagandalüge"
Dass die Türkei zwischen 2012 und 2015 "nicht entschieden genug gegen den 'Islamischen Staat' (IS) vorgegangen sei, sei eine infame Propagandalüge", so Bozkir zu den Diplomaten. Hintergrund von Bozkirs Kritik sind die wiederholten Vorwürfe westlicher Politiker, die Türkei nehme Gefahren durch den sogenannten IS nicht ernst, beziehungsweise unterstütze diesen, indem IS-Kämpfer ungehindert von der Türkei aus nach Syrien reisen konnten.
Weiter behauptete Bozkir laut Protokoll, die Türkei sei das erste Land gewesen, das mit der im August 2016 begonnenen Militäroperation in Jarablus dem IS eine "empfindliche Niederlage" beigebracht habe.
Allerdings: Die Anti-IS-Koalition startete bereits im September 2014 Luftangriffe gegen den IS in Syrien. In den Folgejahren konnte die Kurdenmiliz YPG auch aufgrund der Unterstützung durch Luftangriffe der Koalition den IS in Nordsyrien zurückdrängen.
"Ethnische Vielfalt"
Nachdem der "Islamische Staat" besiegt worden sei, so Bozkir, und nach einer "erfolgreichen Militäroperation in Afrin würden die Karten nun neu gemischt." Das Ziel der türkischen Militärintervention in Syrien sei auch "die Wiederherstellung der ethnischen Vielfalt". Nach Afrin, so Bozkir, würden nun 500.000 Syrer zurückkehren. Zu Bozkirs Aussage kommentiert der Diplomat im Protokoll: "Diese Aufnahme ist aufgrund der Herkunft der Flüchtlinge und der Kapazitäten in Afrin völlig unrealistisch".
Afrin ist kurdisch geprägt. Abgeordnete der prokurdischen Oppositionspartei HDP äußerten in den vergangenen Wochen vermehrt die Sorge, Erdogan wolle die demografischen Gegebenheiten in Afrin ändern, indem er in der Region sunnitische Araber ansiedelt, die aufgrund des syrischen Bürgerkriegs in die Türkei geflohen sind.
Bozkir sprach bei dem Treffen auch über den saudischen Kronprinz Mohammed Bin Salman. Dieser könnte erpresstes Geld für diverse politische Projekte einsetzen. Der protokollierende Diplomat ergänzt Bozkirs Äußerung mit den Worten, "hier wurde es nun bizarr".
Bin Salman, so Bozkirs Theorie, wolle "Palästinenser aus Palästina auf die Sinai-Halbinsel" umsiedeln. "Libyen solle in verschiedene Einzelstaaten aufgeteilt werden. In Mekka und Medina solle eine Art Vatikanstaat errichtet werden." Woher Bozkir diese Erkenntnisse hat, wollte er den Diplomaten offenbar nicht preisgeben.
"Bizarre" Theorien über den saudischen Kronprinz Bin Salman
Irritierte Diplomaten
Prinz Bin Salman erklärte zuletzt überraschend, die Israelis hätten ein Recht auf ein eigenes Land. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hingegen bezeichnete den israelischen Regierungschef Benjamin Netanyahu unlängst als Terroristen. Bozkirs Aussagen haben die Botschafter und Diplomaten offenbar schwer irritiert.
Hätte es sich um eine der zugespitzten Reden des türkischen Staatspräsidenten gehandelt, wären die Sätze als auf die türkische Innenpolitik ausgerichteter Populismus abgetan worden. Weil es sich jedoch bei dem Mittagessen um ein eigentlich ernsthaftes Format handelt, bei dem einem Kreis ausgewählter Experten türkische Außenpolitik näher gebracht werden soll, soll das Stirnrunzeln bei den Zuhörern umso größer gewesen sein.