Brexit-Befürworter demonstrieren am 05.09.2016 in London.
Kommentar

Populismus in Europa Wutschrei der weißen Männer

Stand: 28.12.2016 05:22 Uhr

Die geballte Kraft des Rechtspopulismus hat Europa auf dem falschen Fuß erwischt. Die Versprechen von Le Pen, Farage und Co fielen vor allem bei weißen Männern auf fruchtbaren Boden. Doch warum? Was kann die EU tun?

Ein Kommentar von Kai Küstner, ARD Brüssel

Das Jahr 2016 war ein einziger Wutschrei. Von dem wir noch nicht wissen, ob er 2017 lediglich nachhallen oder sogar noch anschwellen wird. Ein Wutschrei jener weißen Männer, die meinen, bei der Globalisierung vergessen worden zu sein: AfD-Wähler, Brexit-Befürworter und Trump-Mitläufer haben die Welt und Europa nicht nur auf dem ohnehin wacklig gewordenen, falschen Fuß erwischt. Sie drohen, die EU und mit ihr kostbarste Errungenschaften völlig aus den Angeln zu heben.

Auf keinen Fall dürfen wir uns nun von den Rechtspopulisten die Uhren zurückdrehen lassen: Der Weg zurück in eine verklärte Vergangenheit, den Trump, AfD und Co mit uns antreten wollen, eine Vergangenheit mit Mauern auf den Landkarten genau wie in den Köpfen, ist der Weg ins Verderben.

Die Welt ist komplizierter geworden

Doch ein Blick zurück hilft zumindest, das durchaus bedrohliche Phänomen Rechtspopulismus zu verstehen:

Erstens war die Welt bis zum Mauerfall zwar nicht friedlich, aber einfach. Heute ist alles ja so viel komplizierter: Bedrohungen kommen aus mehreren Himmelsrichtungen - siehe Russland, siehe Syrien. Sie kommen von außen genau wie von innen - siehe Terrorismus.

Zweitens ist der Stammtisch dank sozialer Medien sozusagen global geworden und bestärkt sich im Minutentakt via Facebook selbst. Auch mit Ausländerhass, mit Lügen, mit Verschwörungstheorien.

Drittens und nicht zu unterschätzen: Viele scheinen nach dem Zusammenbruch sozialistischer Utopien die Hoffnung aufgegeben zu haben, dass von Links Erlösung zu erwarten ist.

Aggressiv gegen Veränderung

Die Hauptursache aber dafür, dass Menschen überhaupt den leeren Versprechungen von Trump, Le Pen, Farage und Co auf den Leim gehen, ist: Es ist ein Gefühl des Abgehängt-Seins angesichts einer davoneilenden Globalisierung. Natürlich hat diese den Wohlstand weltweit gesteigert. Der aber kommt bei den meisten entweder "gefühlt" oder eben wirklich nicht an.

Front-National-Chefin Marine Le Pen

Mit vielen Versprechen gehen sie auf Stimmenfang: Marine Le Pen ...

Gegen dieses Gefühl der Vernachlässigung muss Europa jetzt etwas tun. Denn die Identitätskrise des weißen Mannes ist so weit gediehen, dass sie sich in aggressiver Form gegen alles zu wenden droht, was auch nur entfernt Veränderung verheißt: Egal, ob es sich um Flüchtlinge, Einwanderer oder die Homo-Ehe handelt.

Die EU muss die großen Themen anfassen

Das Problem ist, dass sich die Lügen-Parolen der Populisten zwar eines Tages selbst entlarven werden, aber es bis dahin könnte zu spät sein. Dann könnte Marine Le Pen als französische Präsidentin bereits den Sargdeckel über der EU zugeklappt haben. Daher ist sofortiges Handeln dringend erforderlich: Leider wird es mit ein bisschen mehr EU-Verteidigungsunion und der Abschaffung der Roaming-Gebühren - was alles richtig ist - nicht getan sein.

Jetzt gilt es, große Themen anzufassen, die Zukunft und Portemonnaie der Menschen wirklich betreffen. Selbstverständlich gehört dazu ein wirksamer und vorbeugender Kampf gegen die Terrorgefahr. Dass sich gleichzeitig die G20-Staaten vorsichtig erste Gedanken darüber machen, wie die Globalisierung gerecht gestaltet werden könnte, ist gut. Wenn Deutschland hier während seines Vorsitzes 2017 versagt, dann wird die Globalisierung zwar weiter stattfinden. Nur eben ohne die Europäer.

Kein Durchwurschteln

Weitere ebenso heiße - aber genau deshalb auch formbare - Eisen sollten nun angegangen werden: die Austrocknung von Steueroasen, ein echtes Einwanderungsgesetz und auch die Idee eines Grundeinkommens, die helfen könnte, Zukunftsängste schon im Keim zu ersticken. Das alles wird schwierig. Das wird schon daran deutlich, dass zum Beispiel Irland die an Apple verteilten Steuergeschenke lieber gar nicht zurück will.

Einreisekontrolle in die EU

Die EU muss klare Einwanderungsregeln finden.

Wer aber die Zukunft gerechter gestalten und die Angst vor ihr nehmen will, der kann jetzt keine Politik des Durchwurschtelns betreiben. Denn natürlich geht es nur international und mit der EU erfolgreich in die Zukunft. Reflexartig auf jedes Wutschnauben von Rechts zu reagieren, wäre falsch. Aber man sollte schon dafür sorgen, dass es die EU auch weiterhin gibt.

Kai Küstner, Kai Küstner, ARD Brüssel, 28.12.2016 00:16 Uhr
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Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 28. Dezember 2016 um 05:17 Uhr.