Twitter nutzen ohne eigenen Account Entwicklungen im Iran "live" verfolgen
Eines der zentralen Kommunikationsmittel der Opposition im Iran ist Twitter. Zunächst belächelt, hat sich der SMS-Dienst zu einer von Regierung und Opposition intensiv genutzten Plattform entwickelt. Die Schlacht um die Köpfe wird so auch im Netz ausgetragen - und jeder kann zuschauen.
Von Eckart Aretz, tagesschau.de
"Geistiger Führer – Du hast die Ermordung unserer Schwestern und die Gewalt gegen unsere Mütter angeordnet! Wie kannst Du erwarten, dass wir Dir folgen?" Der Aufschrei des Teilnehmers namens J_Spot82 ist nur einer von vielen Beiträgen, die minütlich bei Twitter eintreffen.
Twitter ist zu einem zentralen Kommunikationsmittel der Demonstranten gegen den Vorwurf des Wahlbetrug im Iran geworden. Was wenigen bekannt ist: Man muss kein Mitglied bei Twitter sein, um dem Nachrichtenstrom zu folgen. Ein Klick auf die Seite twitterfall.com genügt, und schon kann der Leser in den Infofluss aus tausenden von Kurznachrichten - sogenannten Tweets - eintauchen.
Individuelle Nachrichtenauswahl
Welche Nachrichten angeboten werden, kann der Leser selbst bestimmen. In der linken Spalte bietet Twitterfall besonders populäre Themen in der Rubrik "Trends" an. Weit vorne in diesen Tagen: der vermutete Tod von Neda und die Iranwahl. Wer sich über andere Themen informieren möchte, kann dies mit der Suchfunktion tun.
In der rechten Spalte von Twitterfall kann der Leser den Informationsfluss weiter steuern. Er kann die Sprache bestimmen, die Geschwindigkeit, in der die Nachrichten eintreffen und die Art, in der neue Nachrichten auf dem Bildschirm gezeigt werden.
Identitäten ungewiss
Twitterfall zeigt nur dann Informationen über den Absender an, wenn diese von ihm freigegeben worden sind. Sein Name steht am Beginn eines jeden Tweets; wer sich dahinter verbirgt wird sichtbar, wenn man mit der Maus auf den Namen geht. Ob diese Informationen aber der Wahrheit entsprechen, ist ungewiss.
Zudem kann der Leser direkt auf den Tweet reagieren: Kleine Symbole am rechten Rand der Nachricht ermöglichen eine unmittelbare Antwort, die in Twitterfall erscheint oder eine direkte Kurznachricht an den Verfasser der Kurznachricht. Auch kann sie weitergeleitet oder bewertet werden. Wer sich aktiv am "Zwitschern" beteiligen will, muss sich dann aber bei Twitter registrieren lassen.
Nachrichten nicht nachprüfbar
Wie viele Iraner sich bei Twitter registriert haben, kann nur vermutet werden. Da aber das Land zu den größten Bloggernationen der Welt gehört, dürfte ihre Zahl beträchtlich sein. Gleichwohl kann kein Leser überprüfen, ob der Absender des Tweets tatsächlich vom angegebenen Ort aus sendet. Auch der Wahrheitsgehalt der Nachricht bleibt letztlich unklar.
Gleichwohl vermittelt Twitterfall zumindest eine Ahnung von der Atmosphäre im Iran und von den Trennlinien im laufenden Konflikt. So wird immer wieder die mutmaßliche Ermordung von Neda Agha Soltan durch Scharfschützen einer Miliz aufgegriffen. Einzelne Tweets rufen dazu auf, die Erinnerung an sie zu bewahren und weisen den Vorwurf zurück, das Video, das ihren Tod zeigt, sei gefälscht. NaderRider etwa weist auf das Interview der BBC mit Nedas angeblichem Freund hin und teilt mit, wo das Grab der Frau liegt.
Was wo geschieht
Fortlaufend treffen bei Twitterfall Informationen über neue Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei oder über Aktionen zivilen Ungehorsams ein. Wiederholt hieß es etwa am Dienstagnachmittag, am Aziz-Platz in Teheran gehe die Polizei gegen Protestierende vor. Thetilo teilt mit, dass in der westiranischen Stadt Mahabad die Bürger den Basar geschlossen und sich dem nationalen Streik angeschlossen hätten.
Andere Tweets weisen auf eine für Mittwoch geplante Großdemonstration hin und fragen, ob Präsidentschaftskandidat Mir Hussein Mussawi daran teilnehmen wird. Faryaade empfielt Teilnehmern, nicht mehr die grünen Symbole der Bewegung zu benutzen. Vielmehr solle man normal gekleidet erscheinen und angeben, man sei unterwegs zum Einkauf.
Viele Tweets bieten Hilfe an, wie man im Internet anonym bleiben und sich so der Verfolgung durch den Geheimdienst entziehen kann. Immer wieder verweisen Teilnehmer auf eine Seite namens information.is-the-coolest.com, wo der Leser detaillierte Anweisungen erhält, wie er seine Spuren verwischen kann.
Der Staat ist auch dabei
Doch Twitterfall ist keine exklusive Entdeckung der Protestbewegung. So ruft Antifacista122 dazu auf, die "Faschisten" und den "blutigen Coup" im Iran zu stoppen. In seinem Tweet enthalten ist ein Link, der auf einen Blog führt, demzufolge die CIA im Iran 400 Millionen Euro verteilt hat, um eine Revolution zu provozieren. Ein Fall von Regierungspropaganda? Schon zuvor hatte ein anderer Tweet davor gewarnt, hinter den "Antifaschisten" steckten die Anhänger von Präsident Mahmud Ahmadinedschad.
So rattern die Nachrichten im Sekundentakt ein. Wird Twitter den Iran verändern? Jedenfalls gibt der Dienst vielen Oppositionellen eine Stimme. Gunair fragt deswegen schon jetzt: "Den Nobelpreis für Twitter? Warum nicht!"