Atomkraft-Debatte Gesucht wird die Energie der Zukunft
Die Debatte über einen Weiterbetrieb der verbliebenen deutschen Kernkraftwerke nimmt an Intensität zu. Es gibt sogar Stimmen, die jenseits einer Laufzeitverlängerung den Wiedereinstieg in die Kernenergie fordern. Wie sinnvoll ist das?
Die drei noch verbliebenen Kernkraftwerke Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 sollen eigentlich spätestens zum Jahresende abgeschaltet werden. Zur Nettostromerzeugung trugen sie laut Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme im laufenden Jahr bisher 18,53 Terawattstunden (TWh) oder 6,4 Prozent bei.
Demgegenüber wurden in diesem Jahr mit Braun- und Steinkohle 89,32 TWh oder 30,9 Prozent des Stroms erzeugt. Der Gasanteil betrug demnach 29,35 TWh oder 10,1 Prozent. Die erneuerbaren Energien tragen insgesamt 149,15 TWh oder 51,5 Prozent zum Strommix bei, verteilt auf Wind (75,34 TWh, 26,1 Prozent), Solar (38,31 TWh, 13,2 Prozent), Biomasse (23,14 TWh, 8 Prozent) und andere nachhaltige Energieträger.
Eigentlich haben die AKW-Betreiber EnBW (Neckarwestheim 2), RWE (Emsland) und die Eon-Tochter PreussenElektra (Isar 2) der Laufzeitverlängerungen bereits eine Absage erteilt. Im Falle einer Gesetzesänderung erscheint ein begrenzter Weiterbetrieb aber möglich. EnBW verwies gegenüber dem ARD-Hauptstadtstudio auf den Ausstieg, RWE nannte die "Hürden für einen sinnvollen verlängerten Betrieb hoch". PreussenElektra schrieb jedoch, dass "ein Weiterbetrieb von Isar 2 unter bestimmten Voraussetzungen möglich wäre".
"Streckbetrieb" als Lösung für den Winter
Die Bundesministerien für Umwelt und Wirtschaft kamen bei einer Prüfung im Frühjahr zum "eindeutigen Ergebnis", dass ein Weiterbetrieb der AKW nur einen "sehr begrenzten Beitrag zur Energieversorgung" leisten könne. Dem stünden "nicht nur eine Reihe praktischer Probleme gegenüber, sondern auch verfassungsrechtliche Schwierigkeiten und Aspekte der Sicherheit für Mensch und Umwelt".
Da neue Brennstäbe vor dem Winter mutmaßlich nicht mehr beschafft werden könnten, müssten die drei AKW ihre Stromerzeugung drosseln, um die vorhandenen Brennstäbe länger nutzen zu können. Diesen sogenannten "Streckbetrieb" soll nun erneut geprüft werden, für den Fall dass ein aktuell laufender "Stresstest" der Energieversorung zu dem Ergebnis kommt, diese könne im Winter nicht gesichert sein.
Für eine begrenzte Laufzeitverlängerung sprechen sich derzeit einige Energie-Experten aus: Walter Tromm vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) betont, um die circa 33 Terawattstunden, die die verbliebenen Kernkraftwerke im Jahr erzeugen, mit Gas zu kompensieren, müsse man so viel davon zur Stromerzeugung verbrennen, dass man damit "etwa drei Millionen Einfamilienhäuser ein Jahr beheizen" könne. "Natürlich kann man das auch mit Kohlekraftwerken kompensieren, aber auch hier muss die Kohle beschafft werden, neben der CO2-Problematik", so Tromm.
Auch der ebenfalls am KIT tätigte Spezialist für den Rückbau von Kernkraftwerken Sascha Gentes sagt: "Aus meiner Sicht sprechen aktuell alle sachlichen Argumente für eine zeitlich befristete Laufzeitverlängerung. Wir müssen unsere Energiegewinnung regenerativ gestalten, keine Frage, aber in der aktuellen Situation, mit der niemand gerechnet hätte, drei Kernkraftwerke, die allen Sicherheitsstandards entsprechen, ohne Not abzuschalten, ist unverantwortlich."
"Stuttgarter Erklärung" will Wiedereinstieg
Einigen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen geht diese begrenzte Verlängerung allerdings nicht weit genug: Sie traten Anfang der Woche mit einer Erklärung hervor, die einen Wiedereinsteig in die Kernenergie fordert. Die Gruppe um den Stuttgarter Physiker André Thess sieht "Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand" in Deutschland durch die Energiewende gefährdet. "Das Festhalten am deutschen Atomausstieg verschärft diese Gefahren und bremst - zusammen mit anhaltender Kohleverstromung - den internationalen Klimaschutz", heißt es in der Erklärung.
Michael Sterner, Professor für Energiespeicher und Energiesysteme an der OTH Regensburg, widerspricht dieser "Stuttgarter Erklärung" in einem Twitter-Thread: Tausende "Wind- und Solaranlagen" hielten gerade "den Strompreis niedrig" und leisteten "einen großen Teil der Versorgungssicherheit und -unabhängigkeit". Die Folgekosten der Atomkraft würden ausgeblendet, rechne man sie und andere Risiken mit ein, bleibe "Atomstrom der teuerste Strom aller Zeiten".
Im "Spiegel" ergänzte er: "Das Risiko eines atomaren GAUs besteht immer, das haben auch diese Wissenschaftler nicht in der Hand. Auf Atomkraft zu setzen, ohne die Risiken und das ungelöste Problem der Endlager zu berücksichtigen ist verantwortungslos gegenüber künftigen Generationen." Auch Sterner spricht sich aber für den Streckbetrieb aus, sollte der Stresstest zu dem Ergebnis kommen, dass dies für die Energiesicherheit im Winter notwendig sei.
Umstrittenes TÜV-Gutachten
Auch TÜV-Geschäftsführer Joachim Bühler hatte kürzlich eine rasche Wiederinbetriebnahme der drei Atomkraftwerke ins Spiel gebracht, die Ende 2021 stillgelegt wurden: Brokdorf (Schleswig-Holstein), Grohnde (Niedersachsen) und Gundremmingen C (Bayern). Er hält dies vor allem für eine Frage des politischen Willens: Technisch seien die AKWs in einem Zustand, der eine Wiederinbetriebnahme möglich mache.
Greenpeace wiederum wirft dem TÜV in einem eigenen eigens beauftragten Rechtsgutachten vor, ein "Gefälligkeitsgutachten" im Auftrag des bayerischen Umweltministeriums erstellt zu haben. Der TÜV Süd bescheinige, was der Auftraggeber wünsche. "Unabhängig vom Zustand und ohne Überprüfung der AKW steht für den TÜV das Ergebnis bereits fest", so Heinz Smital, Atomphysiker und Greenpeace-Atomexperte.
Europäische Nachbarn setzen auf Atomstrom
Schaut man ins europäische Ausland, so ist die Haltung zur Kernenergie vielfach eine andere: Belgien hat angesichts der russischen Invasion in der Ukraine bereits den Ausstieg aus der Atomenergie um zehn Jahre verschoben - auf 2035. Und das, obwohl die Sicherheit der älteren dortigen AKWs immer wieder für Diskussionen sorgt. Die beiden Reaktoren, die verlängert werden sollen, seien jedoch neueren Typs.
Frankreich setzt sogar auf den Ausbau der Atomkraft: So hatte Präsident Emanuel Macron erst am 15. Februar 2022 den Neubau von bis zu 14 Atomreaktoren angekündigt. Tatsächlich jedoch versucht Frankreich bereits seit 2007 einen einzigen neuen Reaktor (Flammanville3) zu bauen und in Betrieb zu nehmen - bislang vergeblich. Statt der geplanten Bauzeit von fünf Jahren und Kosten von 3,3 Milliarden Euro ist die geplante Inbetriebnahme momentan für Ende 2023 vorgesehen und die Kosten sind auf 12,7 Milliarden Euro explodiert.
Erst im Juli 2022 kündigte die französische Regierung an, den hoch verschuldeten Atomkonzern EDF komplett zu verstaatlichen. Bis zu 60 Milliarden Euro Schuldenlast könnten so beim französischen Steuerzahler landen. Derzeit sind zudem nur 30 der 59 Reaktoren am Netz: Zum Teil handelt es sich um reguläre Wartungsarbeiten, die auch wegen der Corona-Lockdowns verschoben werden mussten. An mindestens zwölf Reaktoren gibt es jedoch ein ungelöstes Korrosionsproblem - ausgerechnet an einer neueren Baureihe.
Zudem mussten einige Blöcke angesichts der Hitzewelle heruntergefahren werden, weil das Wasser der Flüsse, aus denen Kühlwasser entnommen und zurückgeleitet wird, sonst Temperaturen erreichte, die ein massives Absterben von Flora und Fauna zur Folge hätten. Angesichts langfristig steigender Temperaturen sehen Kritikerinnen hier ein weiteres Problem der Atomkraft im Hinblick auf ihre Klimawandel-Sicherheit.
Auch das nördlichere Finnland setzt auf Atomstrom: Dort soll der neue Atommeiler Olkiluoto 3 nach einem Testbetrieb noch dieses Jahr ans Netz gehen. Hier verzögerte sich der Bauzeit ebenfalls auf insgesamt 17 Jahre, auch hier stiegen die Kosten von drei auf derzeit mindestens neun Milliarden. Der Bau eines weiteren Reaktors wurde daher aufgegeben. In Finnland, wo man sogar schon ein atomares Endlager hat, ist die Kernkraft aber selbst bei den mitregierenden Grünen ein unumstrittener Teil der Klimapolitik zum Einsparen von CO2.