Bundeswehrsoldaten verlassen Masar-i-Scharif in Afghanistan (Archiv)

Lehren aus Afghanistan-Einsatz "Strategisch gescheitert"

Stand: 31.01.2025 20:53 Uhr

U-Ausschuss und Enquete-Kommission zum Afghanistan-Einsatz haben ihre Abschlussberichte vorgelegt - und die haben es in sich: Der Westen - und Deutschland - haben demnach versagt. Aber: Das Interesse am Ergebnis ist gering.

Von Stephan Stuchlik, ARD Berlin

20 Jahre Einsatz, 59 getötete Soldaten, mindestens zwölf Milliarden Euro Kosten und ein Abzug im Chaos: Die Afghanistan-Mission war einer der größten und gefährlichsten Einsätze der Bundeswehr. Mehr als 90.000 Soldatinnen und Soldaten schickte Berlin in diesen Jahren an den Hindukusch, wo, nach Meinung des ehemaligen SPD-Verteidigungsministers Peter Struck, die Sicherheit Deutschlands verteidigt wurde.

Die Aufmerksamkeit, die man dem Einsatz insgesamt über diesen langen Zeitraum zuteil werden ließ, unterlag großen Schwankungen: Der Beginn der Mission und die Last-Minute-Evakuierung waren beide umstritten und heiß diskutiert. An das Karfreitagsgefecht (drei deutsche Gefallene) und das Bombardement der Tanklaster am Kundusfluss mit mehr als 140 afghanischen Toten, darunter vielen Zivilisten, erinnern sich schon viel weniger Menschen, obwohl es zu letzterem sogar einen Untersuchungsausschuss des Parlaments gab.

Verheerendes Zeugnis für die Politik

Jetzt also gibt es die Abschlussberichte der Enquete-Kommission, die den gesamten Afghanistan-Einsatz in Zusammenarbeit mit externen Experten bewertet hat, und des Untersuchungsausschusses, in dem das Parlament mehr als 100 Zeugen besonders zur Evakuierungsaktion befragt hat. Die Ergebnisse sind beunruhigend und stellen besonders dem politischen Management des Einsatzes eein teils verheerendes Zeugnis aus.

Den Berichten aber widerfährt im Parlament dasselbe Schicksal, wie das vieler Debatten über Mandatsverlängerungen des Afghanistan-Einsatzes zwischen 2001 und 2021, die zum Teil in den späten Abendstunden stattfanden: Sie werden beinahe unter Ausschluss der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen.

Keinen interessiert es

Die Aussprache über den Bericht der Enquete-Kommission etwa findet vor halb leerem Plenum statt, da die meisten Abgeordneten gerade auf den Fluren über den umstrittenen Gesetzesvorschlag der Union zur Migration abstimmen, dem aktuellen politischen Aufregerthema Nummer eins. Bei der Debatte über den Bericht des Untersuchungsausschusses tags zuvor gab es ein ähnliches Bild.

Dabei zeigte die Aussprache über den Ausschussbericht - bei allen politischen Differenzen der Redner - wie sich viele der Fehler des großen Einsatzes wie in einem Brennglas im Moment des Abzugs 2021 bündeln. Ein entscheidender Umstand im Kleinen wie im Großen war die unterschiedliche Bewertung der Lage in den Ministerien: Während das Außenministerium mit Heiko Maas (SPD) an der Spitze bis zuletzt Bilder eines überhasteten Abzugs verhindern wollte, drängte das Verteidigungsministerium - damals unter Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) - auf ein schnelles Handeln.

Streit zwischen den Ministerien kostet wertvolle Zeit

Es gab erhebliche Differenzen in den Ministerien, was das Ausfliegen deutscher Ortskräfte betraf. Dazu hatte das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unter Gerd Müller (CSU) wenig Überblick über Hunderte Afghaninnen und Afghanen, die im Laufe der Jahre für Entwicklungshilfeorganisationen gearbeitet hatten. Das Innenministerium mit Horst Seehofer (CSU) befürchtete gar eine Überforderung der Aufnahmekapazitäten.

Der Zwist zwischen den Ministerien kostete viel Zeit, dazu kam eine gravierende Fehleinschätzung besonders des deutschen Geheimdiensts: Der Bundesnachrichtendienst hielt einen Fall Kabuls für unwahrscheinlich - und das bis wenige Tage vor der Machtübernahme der Taliban. Das alles führte zu einer Bundeswehr-Evakuierungsmission aus dem Chaos des Kabuler Flughafens, die - so formulierte es ein Zeuge im Ausschuss - "nicht am Rand des Vertretbaren, sondern weit darüber hinaus" geplant und durchgeführt worden sei.

Keine "Entry"-Strategie, keine "Exit"-Strategie

Es sei ein Einsatz "ohne 'Exit-Strategie'" gewesen, so bezeichnen es mehrere Ausschussmitglieder. Wer den Bericht des anderen Gremiums, also der Enquete-Kommission, über die gesamten 20 Jahre liest, der kommt zum Schluss, dass die gesamte Afghanistan-Mission keine "Entry-Strategie" hatte.

Deutschland und seine Partner seien strategisch gescheitert, auch weil eine "realistisch umsetzbare, kohärente Strategie" gefehlt habe. Mit dieser vernichtenden Analyse beginnt das Papier, das 72 Empfehlungen für zukünftige Auslandseinsätze bündelt. Wer liest, was für die Zukunft empfohlen wird, sieht, woran es in Afghanistan gemangelt hat: Es fehlte Verständnis für den kulturellen und religiösen Kontext der Region, es fehlte eine klare Kommunikationsstrategie.

Vor allem aber fehlte es an Koordination: Zwischen den deutschen Ministerien, zwischen den Ländern der EU, aber auch zwischen den internationalen Partnern von Finnland bis Georgien. Das betraf nicht nur die militärische Zusammenarbeit, sondern auch die Entwicklungspolitik. Zum Teil verfolgten in den multinationalen Missionen die Partnerländer einander widersprechende Strategien, zum Teil konkurrierten die Länder um prestigeträchtige Projekte.

Zu abhängig von den USA

Und man war militärisch zu sehr von den Vereinigten Staaten abhängig: Die USA, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 um Solidarität in Afghanistan gebeten hatten, stießen viele Partner vor den Kopf, als Donald Trump in Doha größtenteils unter Ausschluss dieser Partner mit den Taliban den Abzug der US-Truppen verhandelte, den sein Nachfolger Joe Biden danach vollziehen ließ. Die Kommission empfiehlt, die Handlungsfähigkeit Deutschlands, besonders aber der EU, in internationalen Krisen zu erhöhen. Militärisch sollten bei der Bundeswehr Mittel für Ausbildung, Ausrüstung und Vorbereitung im internationalen Krisenmanagement vorgehalten werden.

Politisch aber sollten vor allem zwei Lehren gezogen werden. Die eine, dass es für solche Einsätze eine fortlaufende und selbstkritische Bestandsaufnahme brauche, ist verständlich, wenn man die zum Teil realitätsfernen Zwischenberichte zum Einsatz in Afghanistan - verfasst von unterschiedlichen Bundesregierungen - betrachtet. Die andere, die einen ressortübergreifenden Kabinettsausschuss mit einem gemeinsamen Lagezentrum vorschlägt, versteht sofort, wer sich auch nur oberflächlich mit dem Hickhack zwischen parteipolitisch unterschiedlich geführten Ministerien im Afghanistaneinsatz beschäftigt hat.

Schonungslose Kritik

Überraschend sind die Ergebnisse der jahrelangen Arbeit in Untersuchungsausschuss und Enquete-Kommission nicht. Überraschend ist, wie offen und schonungslos zum Teil die Kritik formuliert wird. Die Ernsthaftigkeit kommt nicht von ungefähr: Die Kommission etwa warnt, dass die Zeit der großen Auslandseinsätze nicht vorbei sei, für die es dringend andere Regeln brauche.

"Wenn es einen Frieden in der Ukraine gibt, können wir morgen schon in einem Stabilisierungseinsatz dort stecken", sagt ein Kommissionsmitglied am Rande der Debatte. "Wenn wir es dann wieder so machen wie in Afghanistan, wird das fatal."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk in den Nachrichten am 27. Januar 2025 um 20:00 Uhr.