Interview

Abkehr der CDU von der Hauptschule "Sozialer Aufstieg hängt nicht von der Schulform ab"

Stand: 24.06.2011 03:53 Uhr

In vielen Städten gibt es sie nicht mehr: die Hauptschule. Hamburg und Berlin erteilten ihr bereits die Absage. Auch die CDU-Spitze will sich nun von ihr verabschieden. Doch es gibt Kritik. Der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands, Meidinger, plädiert gegenüber tagesschau.de für das Modell Hauptschule.

tagesschau.de: Es gibt immer weniger Schüler, Schulen müssen schließen oder zusammengelegt werden. Ist das nicht ein guter Zeitpunkt, um sich von der Hauptschule zu verabschieden?

Heinz-Peter Meidinger: Natürlich haben wir einen Schüler-Rückgang, den hatten wir übrigens vor 20 Jahren schon einmal, ohne dass die Hauptschule abgeschafft wurde. Wir haben rund 700.000 Hauptschüler und 1,3 Millionen Realschüler. Man sollte sich nicht von einer Schulform verabschieden, ohne zu wissen ob das, was kommt, besser ist.

tagesschau.de: Gibt es nicht schon Erfahrungen mit zweigliedrigen Schulsystemen: in Hamburg, in Berlin und - sehr erfolgreich - auch in Sachsen?

Meidinger: Die zweigliedrigen Systeme in Hamburg und Berlin müssen den Beweis erst noch erbringen, dass sie erfolgreich sind. In Sachsen ist das Schulsystem unbestritten gut. Aber da ist die Situation eben auch anders als vielerorts in Deutschland. Es gibt klare Zugangsbeschränkungen für die Gymnasien, und es gibt eine verbindliche Empfehlung nach der Grundschule. Das alles finde ich in den Papieren der Bundes-CDU nicht.

Zur Person
Heinz-Peter Meidinger ist Oberstudiendirektor, Schulleiter des Robert-Koch-Gymnasiums Deggendorf und seit 2003 Bundesvorsitzender des Deutschen Philologenverbandes. Er hat Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Philosophie in Regensburg studiert und war u.a. Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung.

tagesschau.de: In Deutschland ist die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen gering. Platt gesagt: einmal Hauptschule - immer Hauptschule. Führt das zu guten Lernergebnissen?

Meidinger: Entscheidend ist nicht die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen, sondern die Durchlässigkeit nach oben. Ich bin natürlich der Meinung, dass es neben dem Gymnasium andere Wege geben muss, zum Abitur und zur Hochschulreife zu kommen: zum Beispiel über die berufliche Oberstufe.

tagesschau.de: Die Statistik vieler Hauptschulen spricht dagegen. Die Schüler werden oft regelrecht "abgehängt", sie haben später sehr schlechte Chancen.

Meidinger: Immerhin macht ein Drittel der Hauptschüler später noch den mittleren Abschluss, und ein Drittel der Realschüler noch das Abitur. Ich finde, die Durchlässigkeit ist durchaus da.

tagesschau.de: Wie begegnen Sie "Hilferufen" von Hauptschullehrern, die davor warnen, dass ihre Schulen zu sozialen Brennpunkten werden?

Meidinger: In der Tat konzentriert sich in vielen Hauptschulen eine problematische Schüler-Klientel. Das ist aber auch eine Herausforderung, die  in den vergangenen Jahren zu verstärkten Anstrengungen geführt hat, sich um diese Klientel zu bemühen. Praxisklassen, Werksklassen - das sind nur einige Stichworte zu den Bemühungen, bei Hauptschülern eine Ausbildungsreife herzustellen. Und genau diese spezielle Förderung droht in einem zweigliedrigen System wieder verloren zu gehen.

tagesschau.de: Ist diese - wie Sie es nennen - problematische Schüler-Klientel nicht ein Argument dafür, dass die Schulen besser durchmischt werden müssen?

Meidinger: Man darf nicht Ursache und Wirkung verwechseln. Wir haben ja nicht deswegen eine schwierige Klientel an den Hauptschulen, weil die Schulen schlecht sind, sondern weil wir ein generelles Integrationsproblem in Deutschland haben. Wir müssen erst das Problem der Integration in der Gesellschaft anpacken, wir werden es nicht über die Schulen lösen können.

tagesschau.de: Müsste die Gesellschaft nicht dafür sorgen, dass es keine Schulen gibt, die Sammelbecken sind für die Kinder, die es aufgrund ihrer Herkunft schwerer haben, als andere? Integration gehört doch mit zum Bildungsauftrag - oder?

Meidinger: Man kann auch ein mehrgliedriges Schulsystem finanziell und personell so ausgestalten, dass diese Schüler besser gefördert werden.

tagesschau.de: Wie wollen Sie das machen?

Meidinger: Wir müssen respektieren, dass es Schüler gibt, die direkt in den Beruf streben, die keine zwei, drei Fremdsprachen lernen können, die keinen höheren Abschluss wollen. Und gerade sie müssen wir fit machen für das Berufsleben. In vielen Bundesländern gibt es eine enge Verknüpfung von Wirtschaftsbetrieben und den Hauptschulen. Das hat sich vielerorts bewährt. Ich kenne Hauptschulen, in denen 100 Prozent der Schulabgänger einen Ausbildungsplatz bekommen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass ein Hauptschüler auf einer integrierten Schule bessere Chancen hat. Auch hier wird er sich dem Wettbewerb stellen müssen.

tagesschau.de: Die Hauptschulen, von denen Sie sprechen, gibt es. Es gibt leider auch ganz andere Beispiele - gerade in den Metropolen: Stichwort "Rütli-Schule". Was muss geschehen, damit diese Situation besser wird?

Meidinger: In der Tat ließ sich in Berlin und Hamburg die Hauptschule nicht mehr halten. Aber die Zusammenlegung ist doch noch kein Patentrezept. Damit habe ich Bauchschmerzen, dass jetzt auch die CDU in ihrem Papier so tut, als ließen sich mit Strukturfragen die Probleme lösen.

tagesschau.de: Bildungsexperten und Lernforscher heben hervor, wie wichtig das gemeinsame Lernen ist, von dem schwache und starke Schüler gleichermaßen profitieren. Was ist Ihre Meinung?

Meidinger: Ich glaube, man muss jeden Schüler dort abholen, wo er steht. Dazu braucht man unterschiedliche Lern- und Schulformen. Wenn in einer Klasse Schüler mit unterschiedlichen Lernzielen zusammengefasst sind, werden beide verlieren: die guten und die schwachen Schüler.

tagesschau.de: Denen, die am dreigliedrigen Schulsystem festhalten wollen, wird oft vorgeworfen, sie wollten die Gymnasien und Realschulen - ich sag mal salopp - "sauber" halten von Problemkindern. Ist da nicht was dran?

Meidinger: Sicher gab es auch an Gymnasien durchaus die Einstellung, ein Kind mit Problemen für überfordert zu halten und auf eine andere Schule zu schicken. Diese Kultur hat sich deutlich gewandelt. Das Ziel muss aber sein, dass der soziale Aufstieg nicht an die Herkunft gebunden ist, sondern an Leistung. Echter Aufstieg wird nur über Leistung gelingen. Und für die Leistung ist eine Zusammenlegung der Schulen nicht unbedingt förderlich.

tagesschau.de: Würden Sie ihr Kind auf eine Hauptschule schicken?

Meidinger: Niemand, der selber einen akademischen Hintergrund hat, wird sein Kind gerne auf die Hauptschule schicken. Auf der anderen Seite kenne ich eine Reihe von Beispielen, wo Eltern große Bedenken hatten, ihre Kinder auf eine Hauptschule zu schicken, und dann sehr positiv überrascht waren: Die Kinder bekamen wieder Leistungswillen, die Frustration ließ nach. Diese Kinder haben am Ende ihren Weg erfolgreich gemeistert.  

Das Interview führte Simone von Stosch, tagesschau.de