ARD-DeutschlandTrend November 2009 Die Angst um den Arbeitsplatz wächst
Einen Monat nach der Wahl beschäftigt vor allem die wirtschaftliche Entwicklung die Menschen. Nahezu jeder Zweite sorgt sich um seine Arbeit. Doch auch die Besetzung des neuen Kabinetts polarisiert. Die Bilanz der Einheit fällt 20 Jahre nach dem Mauerfall eher positiv aus.
Von Jörg Schönenborn, WDR
Die Wahl ist vorbei, der Koalitionsvertrag unterschrieben und schon spielt der Parteienstreit in der Wahrnehmung der Wählerinnen und Wähler kaum noch eine Rolle. Was die Stimmung in diesem Herbst prägt, ist die Sorge vor der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Angst um den eigenen Arbeitsplatz hat den höchsten Stand seit Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise im vergangenen Herbst erreicht. 42 Prozent der Beschäftigten sorgen sich um ihren Job. Und unter dem Eindruck der Massenentlassungen bei Quelle und des neuerlichen Kampfes um Opel ist in der Bevölkerung sogar die Meinung zu Staatshilfen gekippt: Erstmals ist eine Mehrheit (58 Prozent) der Ansicht, die Bundesregierung sollte alles versuchen, um Arbeitsplätze in Großunternehmen wie Quelle oder Opel zu retten. Nur noch 39 Prozent meinen, der Staat solle sich lieber ganz raushalten. Im Frühjahr und Frühsommer war die Stimmung noch deutlich gegen diese Art von staatlichen Eingriffen. Im Falle Opel hatten nur 45 Prozent für staatliche Hilfen votiert, bei Unternehmen wie Schaeffler oder Karstadt deutlich weniger.
"General Motors hat die Regierung über den Tisch gezogen"
Dabei ist die Stimmungslage gegenüber Opel und seinen Beschäftigten durchaus differenziert. Auf der einen Seite geben fast alle Befragten (91 Prozent) an, die Opel-Beschäftigten täten ihnen leid und sie hätten Verständnis für die Reaktionen. Auf der anderen Seite fordern genauso viele Befragte (90 Prozent), man solle sich nicht immer nur um Opel kümmern, weil Arbeitnehmer in anderen Firmen auch große Sorgen hätten. Und die Rolle der Bundesregierung in den vergangenen Monaten wird mehr als kritisch gesehen: 69 Prozent stimmen der Formulierung zu, "Die Bundesregierung hat sich von General Motors über den Tisch ziehen lassen."
Politische Stimmung ist nahezu unverändert
Während die Sorge um die weitere wirtschaftliche Entwicklung bei Sachfragen deutlich durchschlägt, gibt es in der Stimmung gegenüber den politischen Parteien keine nennenswerte Veränderung. Infratest dimap hat für die Sonntagsfrage von Montag bis Mittwoch dieser Woche 1500 Wahlberechtigte befragt. Und alle Ergebnisse liegen nah bei den Resultaten der Bundestagswahl: Die Union liegt gegenwärtig bei 35 Prozent (+1 gegenüber dem Vormonat), die SPD verzeichnet 22 Prozent (-1), die FDP liegt unverändert bei 14 Prozent, die Linke bei zwölf Prozent (-1) und die Grünen ebenfalls bei zwölf Prozent (+1).
Die Sonntagsfrage zeigt nur wenig Veränderung zum Vormonat.
Westerwelle polarisiert die Wähler
Richtig spannend und voller Überraschungen ist hingegen die Bewertung des neuen Bundeskabinetts. Auf den ersten Blick fällt das Wohlwollen auf, mit dem fast alle Personalentscheidungen betrachtet werden. Nur ein einziger Minister polarisiert und wird mehrheitlich für keine gute Besetzung gehalten: Guido Westerwelle ist für 44 Prozent der Befragten keine gute Wahl. 42 Prozent hingegen sehen ihn positiv.
Die beste Besetzung ist aus Sicht der Befragten Familienministerin Ursula von der Leyen (76 Prozent Zustimmung). Und eine richtige Überraschung sind 59 Prozent für Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Damit liegt sie gleichauf mit Finanzminister Wolfgang Schäuble und knapp vor Bildungsministerin Annette Schavan (57 Prozent).
Der Shootingstar des Frühjahrs, Karl-Theodor zu Guttenberg, passt offenbar nur bedingt in das neue Ressort. 53 Prozent finden, dass er als Verteidigungsminister eine gute Besetzung ist. Alle übrigen Ministerinnen und Minister sind einem großen Teil der Befragten unbekannt. Unter ihnen haben Ilse Aigner (Landwirtschaft) und Thomas de Maizère (Inneres) die besten Werte.
Beurteilung der neuen Minister
Die Mehrheit wünscht sich einen Sparkurs
Die politischen Pläne der neuen schwarz-gelben Bundesregierung werden sehr viel zurückhaltender bewBertet als das politische Personal. Während Finanzminister Schäuble und andere Koalitionspolitiker am Tag der Steuerschätzung trotz neuer Haushaltslöcher an den versprochenen Steuersenkungen festhalten wollen, wünscht sich die Mehrheit der Bürger einen anderen Kurs.
50 Prozent der Befragten wollen, dass gespart wird, um nicht noch mehr Schulden aufzuhäufen. Nur 45 Prozent unterstützen die Regierungspläne, Steuern und Abgaben zu senken, damit die Verbraucher durch höheren Konsum die Wirtschaft anregen können. Am klarsten auf diesem Kurs sind die Anhänger der FDP (61 Prozent) und überraschenderweise auch die der Linken (52 Prozent). Unions-, SPD- und Grünen-Anhänger wünschen sich hingegen überdurchschnittlich häufig zu sparen, statt Steuern zu senken.
Ergebnisse zur Steuerpolitik der Bundesregierung
Mehrheit gegen längere AKW-Laufzeiten
Die größte Unterstützung unter den zahlreichen Vorhaben findet die Festlegung der Koalition auf höhere Bildungsausgaben (90 Prozent). Sehr groß ist auch die Zustimmung zur geplanten Erhöhung von Kindergeld und Kinderfreibetrag (77 Prozent) und zu der Absicht, Hartz-IV-Empfängern höhere Sparguthaben zuzugestehen (75 Prozent). Mehrheitlich abgelehnt werden dagegen zwei Projekte: 52 Prozent der Befragten sprechen sich gegen längere Laufzeiten für Atomkraftwerke aus. Und 59 Prozent wollen keine Verkürzung des Wehrdienstes – und damit auch des Zivildienstes.
Deutsche Einheit: Die Vorteile überwiegen
Kurz vor dem 9. November hat sich der ARD-Deutschlandtrend natürlich intensiver als sonst mit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in den beiden Teilen des wiedervereinigten Deutschlands beschäftigt. Bei aller Kritik, die vor allem die Ostdeutschen äußern, überwiegen für die meisten Befragten doch die Vorteile dieses historischen Einschnitts. Ehemalige DDR- und Bundesbürger kommen da zu einem beinahe identischen Urteil. 57 Prozent der ehemaligen DDR- und 58 Prozent der Bundesbürger erklären, sie sähen vor allen Dingen die Vorteile der Entwicklung nach der Wende. Für 21 Prozent der ehemaligen DDR-Bürger und für 30 Prozent der ehemaligen Bundesbürger überwiegen die Nachteile. Vor allem die wirtschaftliche Entwicklung seit 1989 wird im Westen negativ beurteilt. 55 Prozent der Westdeutschen glauben, dass es ihrem Land wirtschaftlich heute schlechter geht als vor der Wiedervereinigung (besser: 29 Prozent). Erstaunlich auch das Ergebnis im Osten: Nur 46 Prozent beurteilen die wirtschaftliche Lage heute besser als vor der Wiedervereinigung (35 Prozent schlechter). Angesichts dieser Werte ist wichtig zu betonen: Umfragen messen keine Fakten, sondern die Wahrnehmung der Wirklichkeit.
Ostdeutsche: In der DDR ging es gerechter zu
Noch kritischer fällt das Urteil über die Entwicklung der Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft aus: 62 Prozent der Ostdeutschen finden, dass es in der alten DDR-Gesellschaft gerechter zuging als heute in der Bundesrepublik. Nur 24 Prozent empfinden die heutige Situation als gerechter. Und auch im Westen sieht nur eine Minderheit von 29 Prozent eine positive Entwicklung. Eine relative Mehrheit von 43 Prozent empfindet die Verhältnisse im vereinten Deutschland heute ungerechter als damals in der alten Bundesrepublik.
Die ehemaligen DDR-Bürger unter den Befragten halten die DDR mehrheitlich für einen Unrechtsstaat.
Weitere Infratest dimap-Umfragen aus dem Frühjahr dieses Jahres machen deutlich, dass das Leben vor 1989 für viele DDR-Bürger eben auch mit positiven Erinnerungen verbunden ist. So verwiesen die damals Befragten auf gute Entwicklungschancen für ihre Kinder, auf das DDR-Gesundheitssystem und besseren Schutz vor Kriminalität und Verbrechen, aber auch auf ganz persönliche Dinge wie den Zusammenhalt im Freundeskreis und die Zeit für das Privatleben.
Die DDR, (k)ein Unrechtsstaat?
Vor diesem Hintergrund muss man wohl auch die Antworten auf die Frage interpretieren, ob die DDR ein Unrechtsstaat war. 48 Prozent der befragten ehemaligen DDR-Bürger haben mit ja, 40 Prozent mit nein geantwortet. Für einen immer noch erstaunlich großen Teil der Ostdeutschen ist "Unrechtsstaat" wohl ein Etikett, dass ihr früheres Leben aus ihrer Sicht nicht verdient.
Bleibt trotz aller Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen eine positive Entwicklung: 62 Prozent der Befragten erklärten sich Anfang November "zufrieden mit der Art und Weise, wie die Demokratie in der Bundesrepublik funktioniert" (38 Prozent unzufrieden). Diese 62 Prozent sind der höchste Zufriedenheitswert, der in elf Jahren DeutschlandTrend gemessen wurde. Im Herbst 2006 hatte für Aufsehen gesorgt, dass sich damals erstmals eine Mehrheit im DeutschlandTrend unzufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland gezeigt hatte.
Stichprobe: Repräsentative Zufallsauswahl / Randomstichprobe
Erhebungsverfahren: Computergestützte Telefoninterviews
Fallzahl: 1000 Befragte
Erhebungszeitraum:2. bis 3. November 2009
Fehlertoleranz: 1,4 bis 3,1 Prozentpunkte
Sonntagsfrage: 1750 Befragte
Erhebungszeitraum: 2. bis 4. November 2009
Fehlertoleranz: 1,4 bis 3,1 Prozentpunkte
Zusatzfragen zu Opel: 500 Befragte
Erhebungszeitraum: 4. November 2009
Fehlertoleranz: 1,9 bis 4,4 Prozentpunkte