DeutschlandTrend
Interview

Interview zum Umfragehoch Die Grünen - eine neue Volkspartei?

Stand: 08.10.2010 09:57 Uhr

Die Proteste gegen "Stuttgart 21" verhelfen den Grünen im "DeutschlandTrend" zu einem neuen Allzeithoch. Bundesweit liegt die Partei bei rund 20 Prozent. In Berlin und Baden-Württemberg, wo im nächsten Jahr gewählt wird, sind sie sogar stärkste Kraft. Was macht die Grünen so attraktiv? Darüber sprach tagesschau.de mit dem ARD-Korrespondenten Hans Jessen.

tagesschau.de: Warum profitieren die Grünen und nicht die SPD in den Umfragen von dem Protest gegen "Stuttgart 21"?

Hans Jessen: Die Grünen sind die Einzigen, die von Anfang an gegen dieses Projekt waren. Sie können also ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen. Und das wird honoriert.

Hans Jessen
Zur Person
Hans Jessen berichtet für Radio Bremen aus dem ARD-Hauptstadtstudio. Zu seinen Schwerpunkten zählen die Umweltpolitik, Bildung, Forschung und Entwicklung.

tagesschau.de: Gegen "Stuttgart 21" gehen "brave Bürger" auf die Straße. Viele CDU-Wähler sympathisieren dort jetzt mit den Grünen. Wie bürgerlich ist die Partei?

Jessen: Es sind mehr und mehr Bildungsbürger, die die Grünen wählen. Natürlich sind diese oft Besserverdiener, die es sich leisten können, für Bioprodukte und energiesparende Geräte mehr Geld auszugeben. Die Grünen sind bürgerlich. Gleichzeitig sind sie aber auch eine linke Partei.

tagesschau.de: Was ist denn links an den Grünen?

Jessen: Der Gedanke, dass möglichst große Teile der Bevölkerung an Wachstum und Wohlstand teilhaben sollen. Der Gedanke von Gerechtigkeit und Emanzipation. Die Einsicht, dass Politik nicht auf Kosten künftiger Generationen betrieben werden darf. Auch das Eintreten für die Bürgerversicherung ist ein linkes Projekt, weil dies Solidarität bedeutet: Die Starken helfen den Schwachen.

tagesschau.de: Viele nennen die Grünen inzwischen konservativ.

Jessen: Auch das ist richtig. "Schöpfung bewahren" ist ein konservativer Gedanke. Von Anfang an haben wertkonservative Politiker bei den Grünen die Partei mit geprägt.

"Maßgeschneiderte Angebote" für jeden Wähler?

tagesschau.de: Sowohl im konservativ-bürgerlichen "Ländle" Baden-Württemberg als auch in der Hauptstadt Berlin mit vielen sozialen Brennpunkten und Armut haben die Grünen laut Umfragen die Chance, die nächste Landesregierung zu stellen. Wie ist das zu erklären?

Jessen: Die alten Begriffe konservativ, bürgerlich oder links passen nicht mehr. Die Grenzen verschwimmen, die Lager sind längst aufgebrochen. Die Grünen vermitteln den Eindruck, dass sie jenseits der alten Lager pragmatische Lösungen suchen. Das spiegelt sich auch im Personal. Der Konservative Winfried Kretschmann hätte vermutlich in Berlin keine Chance. Für Baden-Württemberg ist er der Richtige. Umgekehrt hätte die eventuelle Berliner Spitzenkandidatin Renate Künast in Baden-Württemberg große Schwierigkeiten. In Berlin hat sie Chancen - allerdings im Bezirk Kreuzberg braucht es dann einen wie Hans-Christian Ströbele. Die Gesellschaft ist mittlerweile eine Summe von Sub-Gesellschaften, und den Grünen gelingt es oft besser als anderen Parteien, bei Personal und Inhalten maßgeschneiderte Angebote zu machen.

Realitätssinn oder Beliebigkeit?

tagesschau.de: Kritiker nennen dies Beliebigkeit. Ecken und Kanten seien abgeschliffen. Gehört auch dies zum Geheimnis des Erfolgs?

Jessen: Es ist doch vernünftig, wenn sich extreme Positionen an der Realität abschleifen. Das zeugt nicht von Beliebigkeit, sondern von Realitätssinn. Die Grünen schaffen es erstaunlich gut, alltägliche Kompromisse in der Politik und gesellschaftliche Visionen in Einklang zu bringen.

tagesschau.de: Früher standen die Grünen für Flügelkämpfe und Streitkultur. Heute streitet die Union über Integration und die SPD über die Agenda 2010. Die Grünen üben sich derweil in Harmonie. Wie kommt das?

Jessen: Die Partei hat gelernt, Argumente sachlich auszutauschen und Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren. Das war ein langer und auch schmerzlicher Prozess für die Partei. Auch die Führungsriege - Trittin, Künast, Roth - hat sich weiterentwickelt. Dennoch gibt es noch viele Streitthemen. Nehmen wir München: Die Basis ist gegen die Olympiabewerbung, die Fraktion hat dafür gestimmt. Konflikte zwischen Basis und Parteiführung wird es überall geben, wo die Grünen politische Verantwortung übernehmen. Nur stellt es die Partei nicht mehr vor die Zerreißprobe.

Die neue Volkspartei?

tagesschau.de: Lange wurden die Grünen von der Mehrheit der Gesellschaft belächelt. Inzwischen sind sie sehr populär. Woran liegt das?

Jessen: Die Grünen stehen für den Gedanken der Nachhaltigkeit. Und der kommt immer mehr in der Gesellschaft an. Viele spüren inzwischen, dass die fossilen Energien endlich sind - zum Beispiel an der Tankstelle angesichts stetig steigender Preise. Immer mehr Menschen begreifen: Wachstum hat seine Grenzen. Wir müssen verantwortlicher mit unseren Ressourcen umgehen. Atomkraft birgt Risiken. Vielleicht kann man sogar sagen, dass nach Jahrzenten, die von sozial- und christdemokratischem Gedankengut geprägt waren, nun eine Epoche ökologischer, nachhaltiger Politik beginnt.

Das Gespräch führte Simone von Stosch, tagesschau.de