Deutsche Schulen "Schlusslicht beim digitalen Lernen"
Seit eineinhalb Jahren gibt es den DigitalPakt Schule, aber Deutschland liege immer noch weit zurück, sagt der Bildungsforscher Michael Kerres im tagesschau.de-Interview. Die Hoffnung "viel Geld hilft viel" greife zu kurz.
tagesschau.de: In der Corona-Krise hat sich gezeigt, dass Schulen und Lehrer teilweise sehr schlecht auf die Herausforderungen des digitalen Lernens vorbereitet sind. Die Kanzlerin und die Bildungsminister der Länder wollen das ändern und haben gestern verkündet, Schulen ans schnelle Internet anschließen zu wollen. Hätte das nicht längst passieren müssen?
Michael Kerres: Es gibt das grundlegende Problem in Deutschland, dass wir digitale Medien in der Bildung auffallend wenig nutzen. Im internationalen Vergleich mit anderen Industrienationen dürften wir da ein Schlusslicht sein.
Beispielsweise gibt es heute in Deutschland Lehrer, die keine dienstliche E-Mailadresse haben und Schulen ohne digitale Lernplattform. So etwas ist mir aus keinem anderen Industrieland bekannt. Und jetzt in der Corona-Krise zeigen sich diese Probleme, über die wir schon seit vielen Jahren sprechen, plötzlich wie durch ein Brennglas.
tagesschau.de: Vor eineinhalb Jahren haben sich Bund und Länder schon einmal darauf verständigt, die Schulen bei der Digitalisierung voranzubringen und den Digitalpakt Schule mit 5 Milliarden Euro aufgelegt. Davon wurden bislang erst 100 Millionen bei den Ländern eingesetzt. Wieso dauert das alles so lange?
Kerres: Einfach nur Geräte anzuschaffen und in Technik zu investieren, bringt am Ende nichts. Das hat man bereits gelernt, die stehen dann oft an den Schulen herum und kommen nicht richtig zum Einsatz. Das heißt, es ist wichtig, dass die Schulen ein pädagogisches Konzept erarbeiten: Was wollen sie mit dem Geld machen? Wie wollen sie mit digitalen Medien unterrichten?
Allerdings gibt es in Deutschland eine verbreitete Skepsis gegenüber digitalem Lernen in der Schule. Es gibt viele Bedenken und keine große Offenheit dafür, digitale Medien zu erproben. Und das verlangsamt diesen Prozess.
"Skepsis gegenüber digitalem Lernen"
tagesschau.de: Wer hat diese Skepsis? Wer sind die Bedenkenträger?
Kerres: Es wäre falsch, mit dem Finger auf eine Gruppe zu zeigen. Es ist eine Mixtur aus ganz verschiedenen Personen: Lehrer, Elternvertretungen, die sich Gehör verschaffen, die Kultusbürokratie, die Kommunen, die als Schulträger für die Ausstattung verantwortlich sind. Überall findet man Personen, die kritische Argumente hervorbringen. Da ist dieser Prozess dann manchmal komplett in Frage gestellt worden, und nichts geht weiter.
tagesschau.de: Was bringt es dann, jetzt noch mehr Geld für Infrastruktur anzukündigen? Daran scheint es ja nicht zu mangeln, zumal in der Corona-Krise eine weitere Milliarde für mobile Endgeräte fürs Homeschooling und die Administration von Computersystemen bereitgestellt wurde.
Kerres: Im Grunde ist es erfreulich, dass das Thema jetzt Rückenwind bekommt. Aber ich habe die Sorge, dass das mit der Hoffnung 'viel Geld hilft viel' geschieht. Dabei wissen wir, dass das an manchen Punkten gar nichts bringt, wenn keine ganzheitlichen Konzepte verfolgt werden, die die verschiedenen Anforderungen adressieren.
Die schlechte Nachricht ist: Wir werden kaum ganz schnell und kurzfristig zu Veränderungen kommen. Vielleicht liegt das auch daran, dass im Schulbereich immer noch sehr zentralistisch gedacht wird. Im Sinne von: Die Kultusbürokratie definiert die Konzepte und rollt diese dann landesweit aus. Stattdessen müsste man wohl weiter an den Strukturen arbeiten, wie Entwicklung und Veränderung im digitalen Zeitalter funktionieren.
"Dienstrechner für Lehrer notwendig"
tagesschau.de: Es hieß gestern auch, es soll in Endgeräte für Lehrer investiert werden. Ist das wirklich ein Problem?
Kerres: Wahrscheinlich hat jeder Lehrer irgendeinen Computer zu Hause. Aber ich finde durchaus, dass eigentlich der Arbeitgeber diese Geräte zur Verfügung stellen müsste. Das ist in Unternehmen ja auch Gang und Gäbe. Es ist beispielsweise tatsächlich ein Problem des Datenschutzes, wenn Lehrer zu Hause an ihren privaten Rechnern Notenlisten von Schülern bearbeiten.
Das müsste an einem Dienstrechner geschehen, und der wäre über einen VPN abzusichern. Ob man das nun mit Zuschüssen für Lehrer macht, damit sie sich die Geräte kaufen können, oder ob man sie ihnen leiht, wäre zu klären.
"Das Thema Content muss angegangen werden"
tagesschau.de: Was genau muss passieren, dass das Thema Digitalisierung an Schulen wirklich vorankommt?
Kerres: Da ist ein mehrschichtiges Vorgehen erforderlich, und das muss abgestimmt sein. Das heißt, es nützt überhaupt nichts, einfach in Hardware zu investieren oder einfach Lehrkräfte fortzubilden. Wir brauchen diese einzelnen Komponenten, aber die müssen zusammenspielen. Ungeklärt ist dabei auch die Frage, wo die digitalen Lehrinhalte eigentlich herkommen und wie sich das in eine angemessene Form von Fortbildung einpasst. Auch die Schulen müssen sich gemeinsam mit dem Schulträger in ihrer Art des Arbeitens weiterentwickeln.
Mich hat überrascht, dass das Thema Content nicht wirklich angegangen wird. Also die Frage der Lernmaterialien und welche digitalen Lernmedien wir Schülerinnen und Schülern zur Verfügung stellen wollen. Wir sollten da keine zentralistische Lösung anstreben, sondern brauchen ein dezentral strukturiertes und vernetztes System von kommerziellen und nicht kommerziellen Anbietern und Materialien.
"Das ist ein mehrjähriger Prozess"
tagesschau.de: Wie ist ihre Prognose für das neue Schuljahr, bei dem Homeschooling ja wieder ein großes Thema werden könnte?
Kerres: Ich hätte mir gewünscht, dass man das von vornherein mit einplant anstatt zu sagen, wir machen wieder Regelunterricht und hoffen, dass nichts passiert. Man hätte ja auch ein eher hybrides Modell wählen können, bei dem die Schüler für zwei, drei Tage in die Schule kommen, in klar definierten Gruppen und zusätzlich wird ein Onlineprogramm angeboten, das dann aber durchdacht und vorbereitet ist.
Ich glaube zwar schon, dass man in den Schulen jetzt auf die Erfahrungen der vergangenen Monate aufbauen kann. Aber wir wissen aus der Forschung, dass die Digitalisierung ein längerfristiger, ein mehrjähriger Entwicklungsprozess ist. Und zu denken, man schafft jetzt ganz schnell, was man über Jahre nicht geschafft hat, erscheint mir wenig wahrscheinlich.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.