Corona-Maßnahmen Die vergessene Trauer der Angehörigen
Vor gut fünf Jahren wurde der erste Corona-Fall in Deutschland festgestellt. Das unbekannte Virus sorgte für Angst und Unsicherheit. Angehörige von Verstorbenen leiden noch heute unter den Folgen der Einschränkungen.
Ljiljana Kurtic hat immer noch Tränen in den Augen, wenn sie von der Corona-Zeit erzählt. Ihre Mutter ist im Krankenhaus an dem Virus gestorben. Durch die Isolationsmaßnahmen konnte die Tochter sie kaum besuchen. Die sonst gesunde 67-Jährige musste am Hüftgelenk operiert werden. In der Reha infizierte sie sich mit dem Corona-Virus.
Die Symptome verschlimmerten sich. Kurz nach der Reha musste sie ins Krankenhaus und kam auf die Intensivstation - in Baden-Württemberg. Lilijana Kurtic lebt jedoch in Köln. Am Anfang konnte die Familie noch mit der Mutter telefonieren. Wenige Tage später rief die Klinik an. Die einzige Information, die sie erhalten: Die Familie solle kommen. Da lag die Mutter bereits mehrere Tage im Koma.
"Ich war die ganze Zeit im Schockzustand. Ich habe nicht realisiert, dass sie sterben wird, es hat mir auch keiner gesagt", sagt Ljiljana Kurtic. 13 Tage lang lag ihre Mutter im Koma, eine qualvolle Zeit. "Die ganze Zeit über hatten wir keine Ansprechpartner, außer dass ein Arzt zu irgendeinem Zeitpunkt am Tag angerufen hat, kurz."
Besuch vor dem Tod der Mutter
Dann wurde sie endlich zu ihrer Mutter gelassen, an einem Sonntag, so erinnert sich Ljiljana Kurtic. Einen Tag später starb sie. "Als klar war, dass meine Mutter tot ist, wurden wir auch ohne Corona-Negativtest am Empfang durchgelassen und da durften wir auch zu dritt hinein, also mein Vater, meine Schwester und ich", erinnert die Tochter sich.
Bei der Beerdigung durften sie sich nur noch am geschlossenen Sarg verabschieden. Der Vorfall habe sie traumatisiert, sagt Ljiljana Kurtic rückblickend. Dass sie sich nicht würdevoll von ihrer Mutter verabschieden konnte, beschäftigt sie noch heute.
Blumen und Kränze am Grab: Die Familie Kurtic konnte sich nicht so verabschieden, wie sie es gebraucht hätte.
"Wussten nicht, ob es uns genauso ergehen würde"
In Deutschland starben dem Robert-Koch-Institut zufolge bislang 186.701 Menschen an oder mit dem Coronavirus. Auch im St. Antonius Hospital in Eschweiler mussten die Ärzte lernen, mit dem Ausnahmezustand umzugehen. Thomas Scholl ist inzwischen Chefarzt in der Notaufnahme. Während der Corona-Pandemie arbeitete er auf der Intensivstation.
Für das Personal sei es eine sehr belastende Zeit gewesen, "weil man am Anfang gar nicht wusste, was auf einen zukommt", erinnert er sich. "Man hat die Bilder aus dem Ausland gesehen, aus Italien, und wusste nicht, ob es uns genauso ergehen würde hier."
Persönlicher Austausch hat gefehlt
Der eingeschränkte Kontakt zu Angehörigen sei auch für Ärzte und das Pflegepersonal ein Problem gewesen, sagt Scholl. "Man musste vieles telefonisch regeln." Der persönliche Austausch habe sehr gefehlt. Die Mediziner hätten die Angehörigen nicht richtig kennenlernen und sie dadurch nicht einschätzen können.
"Auf der anderen Seite war es natürlich auch so, dass die Patienten nicht alleine gestorben sind", sagt der Chefarzt. "Wir haben sie begleitet und wir haben in Ausnahmefällen auch relativ früh schon bei sterbenden Patienten Angehörige zugelassen."
Ljiljana Kurtic schreibt ihre Erfahrungen auf. Es hilft ihr dabei, das Erlebte zu verarbeiten.
Kompromiss "Fenster-Besuch"
Was ist medizinisch verantwortbar, was ist moralisch und ethisch korrekt? In Eschweiler versuchte das Team Kompromisse zu finden - zum Beispiel durch "Fenster-Besuche".
Bernd Rütten leitet in Eschweiler das Pflegepersonal auf der Intensivstation, ein Team mit 90 Mitarbeitenden. "Das war furchtbar in der ersten Zeit, wir mussten uns ja auch erstmal selber alle finden als Team", sagt Rütten. Die Ärzte und das Pflegepersonal haben zunächst die Angehörigen vor der Tür stehen lassen. "An jeder Tür haben wir so ein großes Fenster, da durften die dann durchschauen." Später habe man versucht, die Maßnahmen etwas zu lockern und die engsten Verwandten mit Schutzausrüstung ins Zimmer gelassen.
Hoher Preis für viele Maßnahmen
Bestimmt würde man heute einige Entscheidungen anders treffen als damals, sagt Carsten Watzl. Der Professor leitet den Forschungsbereich Immunologie am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund. Der Preis sei für viele Maßnahmen zu hoch gewesen: "Dass die Kinder schlechter gelernt haben, dass Sozialkontakte fehlen, dass Leute in Pflegeheimen einsam verstorben sind, weil die Verwandten nicht dazukommen konnten", das seien soziale Kosten.
Im Nachhinein könne man nun sagen, dass viele Entscheidungen falsch gewesen seien, weil man wisse, dass durch Masken und andere Hygienemaßnahmen eine Virusausbreitung gut verhindert werden könne, sagt Watzl.
Besuche wären dadurch auch möglich gewesen. "Das wissen wir mit unserem Wissen jetzt, und deshalb ist auch diese Aufarbeitung wichtig", sagt der Wissenschaftler.
Ethikrat: Hätten Risiko in Kauf nehmen müssen
Keiner habe sich die Entscheidung damals leicht gemacht, sagt der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Helmut Frister. Gerade die Bilder von vielen Toten aus Bergamo hätten Eindruck hinterlassen. "Wenn man da über das Ziel hinausgeschossen ist, kann man das verstehen, auch wenn das im Nachhinein nicht richtig war", sagt Frister.
Was den Umgang mit Sterbenden angeht, hat er inzwischen eine klare Meinung: Unter strengen Tests sollte der Kontakt ermöglicht werden. "Die Pandemie kann sich dann zwar schneller verbreiten, aber Sie müssen eine Güterabwägung machen", sagt der Vorsitzende. Bei dieser Güterabwägung gehe es um die Möglichkeit des Abschiednehmens, aber auch darum, das Sterbende ihre Angehörigen um sich haben. "Und beides ist so wichtig, dass wir da dieses Risiko in Kauf nehmen müssen."
Frister warnt allerdings davor, die Pandemie im Nachhinein zu verharmlosen. Vieles sei richtig gewesen, sonst hätte es noch deutlich mehr Opfer gegeben.
Verarbeitung bis heute schwierig
Die Trauer der Angehörigen bleibt. Ljiljana Kurtic belastet der Verlust ihrer Mutter psychisch bis heute. Auch, dass sie damals kaum mit Freunden sprechen konnte, um ihre Trauer zu verarbeiten, sei ein Problem. "Der Freundes- und Bekanntenkreis war größtenteils weggebrochen und ich musste alleine das alles tragen", erzählt sie. "Meine Mutter ist isoliert gestorben und ich war danach genauso isoliert in meinem Alltag."
Ljiljana Kurtic hat ein Buch geschrieben, um ihre Erfahrungen zu verarbeiten. "Papier und Stift sind immer griffbereit und da kann ich mir alles von der Seele schreiben."