Pressefreiheit in Deutschland "Angriffe dürfen kein Normalfall werden"
Deutschland rutscht im Ranking für Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen auf Platz 21. Schuld daran sind auch Angriffe auf Medienschaffende bei Demonstrationen.
Um die weltweite Pressefreiheit ist es schlecht bestellt - zu diesem Ergebnis kommt zumindest die Organisation "Reporter ohne Grenzen". Die Lage sei so instabil wie seit Langem nicht. Schuld daran seien "Krisen, Kriege und die anhaltende Ausbreitung des Autoritarismus". Die Rede ist von einer Zeit der "medienfeindlichen Hetze und Desinformation".
Angeführt werden die Unterdrückung unabhängiger Berichterstattung in Russland sowie massenhafte Festnahmen von Medienschaffenden in der Türkei. Aber auch Deutschland wird als Negativbeispiel genannt. Die Angriffe gegen Reporterinnen und Reporter am Rande von Demonstrationen ließen Deutschland im Ranking der Pressefreiheit von Platz 16 im vergangenen Jahr auf Platz 21 abrutschen.
Zwar liegt der Grund auch im besseren Abschneiden anderer Länder, die damit an Deutschland vorbeiziehen - doch die Anzahl der von "Reporter ohne Grenzen" gezählten Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten bei Demonstrationen ist mit 103 im Jahr 2022 so hoch wie noch nie.
"Flächenbrand der Verschwörungstheorien"
Lutz Kinkel, Direktor des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) in Leipzig, schätzt die Stimmung gegenüber Medienschaffenden in Deutschland als zwiegespalten ein. "Einerseits haben die 'Querdenken'-Demonstrationen während der Covid-Pandemie ein sehr pressefeindliches Klima erzeugt", sagt Kinkel gegenüber tagesschau.de. Anderseits habe die Pandemie auch dazu geführt, dass Menschen gut recherchierte Meldungen wieder stärker geschätzt hätten. "Weil deutlich wurde: Informationen helfen nicht nur, die Lage zu verstehen, sondern auch, sich vor Gesundheitsrisiken zu schützen", so Klinkel.
Auch das ECPMF dokumentiert Übergriffe auf Medienschaffende. Dabei registrierte es mit dem Abflauen der Pegida-Proteste zunächst einen deutlichen Rückgang. "Ab 2020 jedoch gingen die Zahlen durch die Decke. Ursache war die schiere Masse an Protesten und sogenannten 'Spaziergängen' während der Covid-Pandemie", sagt Kinkel - nach der einfachen Formel: je mehr Proteste, desto mehr Übergriffe.
Verhaltensgrundsätze für Polizei und Medien
"Hinzu kam der Flächenbrand der Verschwörungstheorien", so Kinkel. "Gleichgültig, worauf sie sich beziehen, sie haben alle eines gemeinsam: die Unterstellung, dass Journalistinnen und Journalisten nicht die Wahrheit berichten würden." Diese Unterstellung züchte den Hass.
Um die Sicherheit von Journalistinnen und Journalisten zu verbessern, fordert Kinkel mehr Engagement der Medienhäuser, das eigene Personal zu schützen. Darüber hinaus solle die Innenministerkonferenz die Verhaltensgrundsätze für Polizei und Medien verabschieden, die der Presserat vorgelegt hat. Außerdem sollten Medienschaffende darüber reden, was ihnen zustößt. "Angriffe und Bedrohungen dürfen kein Normalfall werden", sagt Kinkel.
"Mit dem Rücken zur Wand"
Sarah Ulrich ist freie Journalistin. Nach einem Vorfall am 7. November 2020 hat sie für sich selbst entschieden, keine rechtsextremen oder verschwörungstheoretischen Demos mehr zu begleiten. Damals hatte sie von einer großen "Querdenken"-Demonstration mit mehreren Zehntausend Teilnehmenden in Leipzig berichtet, bei der es zu massiver Gewalt gegen Einsatzkräfte und Medienschaffende kam.
"Die Anzahl an Polizistinnen und Polizisten vor Ort war unverhältnismäßig verglichen mit der Menge an Demonstrantinnen und Demonstranten", erinnert sich Ulrich im Gespräch mit tagesschau.de. Nachdem die Demonstration aufgelöst worden sei, seien die Teilnehmenden einfach an den Einsatzkräften vorbeigelaufen und hätten die Demonstration unangekündigt an anderer Stelle weitergeführt.
Sie selbst habe mit mehreren anderen Journalistinnen und Journalisten hinter einer Polizeikette gestanden. "Dann gab es einen gewaltvollen Durchbruch", erzählt Ulrich. Demonstrierende, darunter Ulrich zufolge auch bekannte Neonazis, seien auf sie zugerannt - "mit Flaschen und Feuerwerkskörpern". "Wir standen mit dem Rücken zur Wand", sagt die freie Journalistin. Auch vorher seien die Demonstrierenden schon aktiv gegen die Presse vorgegangen. "Einige Kolleginnen und Kollegen wurden verletzt."
Obwohl Ulrich selbst keine physischen Verletzungen erlitten habe, sei es auch für sie eine akute Gefahrensituation gewesen. Das habe auch Auswirkungen darauf gehabt, wie sicher sie sich im Job fühle. "Mir wurde klar, dass ich mich in diese Situationen nicht mehr begeben will", sagt Ulrich, "insbesondere als Freie, die keinen direkten Schutz durch eine Redaktion hat."
Pressefeindliche Erzählungen normalisert
Die Gewalt bei der Demonstration in Leipzig wurde im Nachhinein vielfach diskutiert - doch sie war kein Einzelfall, wie "Reporter ohne Grenzen" nun erneut feststellte. "Auch im vergangenen Jahr waren Demonstrationen der gefährlichste Ort für Journalistinnen und Journalisten", sagt Pressereferent Birger Schütz. Dort seien rund 84 Prozent der Angriffe gezählt worden.
Die gewachsene Zahl der Angriffe erklärt sich die Organisation genauso wie ECPMF-Direktor Kinkel zum einen mit der ideologischen Radikalisierung von Teilen der Gesellschaft. "Bei vielen hat sich die Einstellung gegenüber der Presse seit dem Beginn der Pandemie immer weiter verschlechtert", so Schütz. Dazu komme eine gewachsene Gewaltbereitschaft der "Querdenken"-Bewegung. Ein weiterer Punkt sei, dass pressefeindliche Erzählungen in Teilen der Gesellschaft normalisiert würden. So habe sich beispielsweise der ursprünglich aus rechtsextremen Kreisen stammende Begriff der "Lügenpresse" weit verbreitet.
Stärkeres Bewusstsein in Medienhäusern und Polizei
"Ein Blick in andere EU-Länder wie Frankreich, Italien und Niederlande zeigt, dass hier die Angriffe gegen Journalistinnen und Journalisten mit dem Ende der Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen abgenommen haben", sagt Schütz. In Deutschland hätten dagegen vor allem extrem rechte Personen und Gruppen weiterhin demonstriert und Medienschaffende angegriffen. Der Fokus der Demonstrationen habe sich von den Corona-Maßnahmen auf den Ukraine-Krieg verschoben.
Um Journalistinnen und Journalisten zu schützen, fordert "Reporter ohne Grenzen" auch ein stärkeres Bewusstsein bei der Polizei für die Problematik. Es gebe zwar bereits Bewegung, aber einige Journalistinnen und Journalisten fühlten sich dennoch von Polizei und Justiz im Stich gelassen. In knapp einem Fünftel der Fälle gaben die Betroffenen "Reporter ohne Grenzen" zufolge an, dass ihnen Unterstützung verwehrt blieb, obwohl sich Einsatzkräfte ganz in der Nähe aufhielten oder zum Einschreiten aufgefordert wurden.
Medienhäuser könnten zudem dem Schutzkodex für Medienschaffende beitreten, so Schütz. Der Kodex umfasse "ein Dutzend praktische Maßnahmen, unter anderem feste Ansprechpersonen bei den Arbeitgebern sowie psychologische und juristische Unterstützung der Betroffenen".