Urteil des Bundesverfassungsgerichts Neuer Prozess trotz rechtskräftigen Freispruchs?
Vor 42 Jahren wurde eine 17-Jährige vergewaltigt und ermordet. Ein Verdächtiger wurde freigesprochen. Jahrzehnte später tauchen neue Beweise auf. Muss er erneut vor Gericht? Darüber entscheidet das Bundesverfassungsgericht.
Es ist der 4. November 1981. Frederike von Möhlmann ist 17 Jahre alt, als sie nach Erkenntnis der Ermittlungsbehörden zu einem fremden Mann ins Auto steigt. Vier Tage später wird sie tot aufgefunden.
Der Befund ist schrecklich: Sie wurde vergewaltigt und anschließend ermordet. Relativ schnell wird ein Verdächtiger gefasst und angeklagt. 1983 wird er vom Landgericht Stade freigesprochen. Der Freispruch wird rechtskräftig.
Neue Beweise tauchen auf
Jahrzehnte später, im Jahr 2012, tauchen neue Beweise auf. Eine DNA-Analyse, die in den 1980er Jahre noch nicht möglich war, belastet den Freigesprochenen. Im Slip der Ermordeten waren Spermaspuren gefunden worden. Nach einem molekulargenetischen Gutachten des Landeskriminalamtes Niedersachsen führt die Spur zum früheren Angeklagten.
Aufgrund der Rechtskraft des Freispruchs ist ein neuer Strafprozess zu diesem Zeitpunkt aber nicht möglich. Denn nach dem Grundgesetz darf niemand aufgrund der derselben Tat mehrmals bestraft werden. Daraus folgt der Grundsatz, dass ein neuer Prozess gegen einen rechtskräftig Freigesprochen grundsätzlich nicht zulässig ist. Dahinter steckt der Gedanke der Rechtssicherheit: Ein rechtskräftig Freigesprochener soll nicht sein Leben lang Angst haben müssen, dass ihm ein weiterer Prozess droht. Ausnahmen davon gibt es nur in sehr engen Grenzen: Etwa wenn der Freigesprochene später ein Geständnis ablegt und einen neuen Prozess will. Oder wenn das frühere Verfahren unter schweren Mängeln gelitten hat.
Vater der Ermordeten erwirkt Gesetzesänderung
Hans von Möhlmann, der inzwischen verstorbene Vater von Frederike, wollte das nicht hinnehmen. In einem Interview mit der ARD sagte er vor einigen Jahren: "Für mich war das immer unfassbar, dass ein Mann, obwohl es Möglichkeiten gibt, ihn zu verurteilen durch Nachweis, frei herumläuft. Das konnte ich mir nie vorstellen."
Hans von Möhlmann kämpft für eine Gesetzesänderung, startet eine Petition, die fast 200.000 Menschen unterschreiben, mit Erfolg: 2021 verabschiedet die Große Koalition von Union und SPD eine Änderung in der Strafprozessordnung. Seitdem gilt: Bei schweren Straftaten wie Mord oder Kriegsverbrechen kann es bereits dann einen neuen Prozess geben, wenn neue Beweise auftauchen.
Erneuter Prozess und Klage vorm Bundesverfassungsgericht
2022 starb Hans von Möhlmann, im Alter von 79 Jahren. Was er nicht mehr erlebte, war die Entscheidung des Landgerichts Verden, den Strafprozess gegen den ursprünglich Verdächtigen neu aufzurollen. Das Landgericht ließ unter Berücksichtigung der neuen Rechtslage die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zu. Diese Entscheidung wurde vom Oberlandesgericht Celle in zweiter Instanz bestätigt.
Gegen diese Entscheidung legte der zum zweiten Mal Angeklagte Verfassungsbeschwerde ein. Er hält die Änderung in der Strafprozessordnung für verfassungswidrig.
Tatsächlich ist die Gesetzesänderung sehr umstritten: Während Bundestagsabgeordnete von Union und SPD sie immer wieder vehement verteidigten, formulierten Rechtspolitiker der Grünen und der FDP große rechtsstaatliche Bedenken. Auch in der Rechtswissenschaft finden sich Gegner und Befürworter. Beide Seiten kamen im Mai dieses Jahres ausführlich zu Wort, als der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsbeschwerde verhandelte.
Ein fundamentales Prinzip des Rechtsstaats
Anwälte und Verfassungsjuristen kritisierten während der Verhandlung die neue Rechtslage und argumentierten: Der Grundsatz, dass niemand wegen derselben Sache zweimal vor Gericht gestellt werden darf, wenn er rechtskräftig freigesprochen wurde, sei ein fundamentales Prinzip des Rechtsstaats. Sie verwiesen unter anderem darauf, dass nun eine Wiederaufnahme nicht nur bei neuen DNA-Analysen erlaubt sei, sondern auch bei neuen Zeugenaussagen. Die Neuregelung könne auch Unschuldige treffen, das sei nicht akzeptabel.
Die Befürworter der Wiederaufnahme verwiesen dagegen auf die Interessen der Angehörigen der Opfer. Sie hätten ein berechtigtes Interesse daran, dass schwerste Verbrechen wie Mord aufgeklärt werden. Dies sei auch ein Gebot der Gerechtigkeit.
Wie das Bundesverfassungsgericht entscheiden wird, gilt als offen. Während der Verhandlung im Mai in Karlsruhe ließ sich jedenfalls keine klare Tendenz erkennen.