Landratswahl in Sonneberg "Die Höcke-AfD würde viele neue Bühnen bekommen"
Im thüringischen Sonneberg könnte erstmals ein AfD-Kandidat die Landratswahl gewinnen. Warum Rechtsradikale nicht nur im Osten stärker werden - und das Narrativ der "Protestwähler" der AfD in die Hände spielt, erklärt Soziologe Matthias Quent.
tagesschau.de: Schon jetzt gibt es auf kommunaler Ebene Zusammenarbeit mit der AfD. Im Kreistag Sonneberg in Thüringen hat die AfD derzeit neun Sitze, die CDU zehn. Wäre es da wirklich so ein großer Unterschied, wenn ein AfD-Mitglied nun am Sonntag die Stichwahl zum Landrat gewinnen würde?
Matthias Quent: Ein Landrat hat weitreichende Möglichkeiten, um beispielsweise über Ordnungsbehörden, den Haushalt oder Aufsichtfunktionen das Leben vor Ort zu beeinflussen. Vor allem aber wäre es für die AfD ein großer symbolischer und taktischer Erfolg auf dem Weg in ostdeutsche Landesregierungen. Außerdem könnte die AfD das Amt nutzen, um Druck auf das Land auszuüben.
Mit einem AfD-Landrat müssten auch andere Landkreise sowie Land und Bund zusammenarbeiten. Mit dem Posten würde die Höcke-AfD viele neue Bühnen bekommen. Es würde die Wahrnehmung Ostdeutschlands insgesamt schädigen und die Position der angeschlagenen demokratischen Zivilgesellschaft weiter schwächen.
"Kein originär ostdeutsches Phänomen"
tagesschau.de: Selbst die Linkspartei rief vor der Stichwahl dazu auf, für CDU-Kandidat Jürgen Köpper zu stimmen. Sind solche Wahlaufrufe zielführend?
Quent: Um die Wahl des AfD-Kandidaten zu verhindern ist das alternativlos. Das Dilemma ist, dass vermeintlich oder tatsächlich alternativlose Politik Wasser auf den Mühlen der selbsternannten "Alternative für Deutschland" ist. Es gibt keinen guten, nur einen weniger schlechten Umgang mit dieser Situation: den Schulterschluss der Demokraten.
Diese Situation ist kein originär ostdeutsches Phänomen - solche Konstellationen finden sich in verschiedenen Ländern der EU, wobei die AfD auch im internationalen Vergleich der Rechtsaußenparteien besonders extrem positioniert ist. Im Alltag arbeiten CDU und Linkspartei ohnehin häufig konstruktiv und unideologisch zusammen. Solche Kooperationen werden in den nächsten Jahren die einzige Möglichkeit sein, um die liberale Demokratie und ihre Institutionen vor Machtgewinnen der Rechtsradikalen zu schützen.
"Vielfach Normalität"
tagesschau.de: Warum schreckt es nicht mehr Wählerinnen und Wähler ab, dass die Thüringer AfD laut Verfassungsschutz als rechtsextrem gilt?
Quent: Elemente rechtsextremer Einstellungen sind weit verbreitet: Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Autoritarismus und nationalistischer Chauvinismus werden in ländlichen Regionen stärker als in urbanen Zentren und im Osten stärker als im Westen gemessen. Insofern sind Äußerungen und Orientierungen, die öffentlich und in der Forschung mit dem Begriff des Rechtsextremismus bezeichnet werden und die die AfD vertritt, vielfach Normalität.
Das Urteil des Verfassungsschutzes interessiert kaum, unter anderem weil das mit Stasi-Vergleichen leicht abgewehrt wird. Als rechtsextrem bezeichnet zu werden, wird sogar als Auszeichnung verstanden, weil es eine maximale Distanz zum verachteten politischen Establishment zum Ausdruck bringt. Das kann identitätsstabilisierend wirken, insbesondere wenn rechte Positionen bestenfalls in den Medien problematisiert werden, nicht aber beispielsweise in Kommunalparlamenten oder in sozialen Gemeinschaften.
Noch stärker bestätigt die ständige, unterkomplexe und entpolitisierende Beschreibung der AfD-Wählenden als "Protestwähler" die fundamentaloppositionelle Darstellung der AfD. Das Protestwahlnarrativ erleichtert die Normalisierung rechtsextremer Inhalte noch über das ohnehin schon seit Jahren große rechte Potenzial hinaus.
"Die Rechtsradikalen gewinnen an Einfluss"
tagesschau.de: Es ist nicht die erste Stichwahl, in der ein AfD-Kandidat gegen einen Kandidaten einer anderen Partei antritt, zuletzt war das bei der Oberbürgermeisterwahl in Schwerin der Fall. Wie sieht ein souveräner Umgang mit der AfD bei solchen Wahlen aus?
Quent: Es wird auch nicht der letzte Fall sein. Die Rechtsradikalen gewinnen gesellschaftspolitisch an Einfluss und oft auch an Wählerstimmen, wenn demokratische Parteien deren Positionen übernehmen. Sie profitieren aber auch, wenn sie als Außenseiter das Wahlgeschehen dominieren können und andere wie das Kaninchen vor der Schlange erstarren.
Souverän ist, sich nicht die Agenda von rechts außen bestimmen zu lassen. Lokale Verankerung, selbstbewusste Politikgestaltung und deren Kommunikation, erkennbares Profil, klare Abgrenzung und Aktivierungsversuche der großen Nichtwählerschaft sind souverän. Aber das ist leichter gesagt als getan und löst nicht die übergreifenden gesellschaftlichen Spannungen, die die AfD erfolgreich radikalisieren kann.
tagesschau.de: Was können Parteien und Zivilgesellschaft vor Ort tun, um sich gegen den Einfluss Rechtsextremer zu wehren?
Quent: Es fehlt nicht an Wissen um die Instrumente, sondern an Aktivitäten, an Anerkennung und Unterstützung für diejenigen, die von Rechtsextremismus betroffen sind, für diejenigen, die sich dagegen engagieren, und überhaupt an Interesse für konstruktive politische Gestaltung. Es wird sich zeigen, ob die Wahlbeteiligung in der Stichwahl höher ausfällt als im ersten Wahlgang.
"Wir reden von etwa 2500 Stimmen"
tagesschau.de: CDU-Landeschef Mario Voigt spricht mit Blick auf Sonneberg von "berechtigtem Ärger über das schlechte Regierungshandwerk der Ampel in Berlin". Welche Rolle spielt die Bundespolitik bei der Landratswahl?
Quent: Bei der Zweitstimme war die AfD schon bei der Bundestagswahl 2021 in Sonneberg stärkste Kraft. Die damalige Aufstellung des Rechtsaußen Hans-Georg Maaßen durch die CDU im Bundestagswahlkreis, zu dem auch Sonneberg gehört, hat zur Polarisierung beigetragen. Gleichzeitig erfährt die AfD derzeit auch in bundesweiten Umfragen Mobilisierungsspitzen, die mit antigrünen, ausländerfeindlichen und teils prorussischen Stimmungen verbunden sind, im Osten aber auch damit, dass die Parteien der Bundesregierung schon damals von nicht mal der Hälfte der Ostdeutschen gewählt wurden. Die bei der Bundestagswahl stärkste Partei im Osten, die SPD, kann bei Kommunal- und Landtagswahlen nicht vom Scholz-Effekt profitieren.
Besonders wichtig ist, dass AfD-Kandidat Robert Sesselmann vor Ort etabliert und als Rechtsanwalt angesehen ist. Die AfD mobilisiert emotionalisierend mit Angst- und Untergangsszenarien, die aktivierend wirken sollen. Sie ist in den sozialen Medien besonders aktiv. Dann muss man sich vor Augen führen, dass Sonneberg ein kleiner Wahlkreis mit weniger als 50.000 Wahlberechtigten ist, von denen nicht mal die Hälfte zu der Landratswahl gegangen ist, die zur jetzigen Stichwahl führte. Wir reden von etwa 2500 Stimmen, die den Unterschied machten.
Diese Stimmen zum Gradmesser für die gesamte Bundespolitik oder einen neuen riesigen Rechtsrutsch zu erklären, ist unterkomplex. Dafür wären beispielsweise die großen Erfolge der AfD bei den Landtagwahlen in Niedersachen im vergangenen Jahr viel geeigneter gewesen. Der Krieg Russlands, die verhinderte Energiewende und das zerstrittene Bild der Bundesregierung haben Folgen - aber bei der Ampel die alleinige Verantwortung für rechten Populismus und Extremismus abzuladen, ist ein parteipolitisches Manöver, das der Ernsthaftigkeit und Vielschichtigkeit der Problematik nicht gerecht wird.
"Strategie, Diskurs nach rechts zu verschieben"
tagesschau.de: Thüringens AfD-Chef Björn Höcke hat Anfang Mai das Ziel ausgegeben, den ersten AfD-Landrat Deutschlands zu stellen. "Was wäre das für eine Schlagzeile. Die Bundesrepublik Deutschland würde beben, und das muss unser Ziel sein", hat er beim Landesparteitag gesagt. Wie sollte die mediale Berichterstattung vor diesem Hintergrund aussehen?
Quent: Sachlich. Kommunalpolitische Erfolge und Mobilisierungen im ländlichen Raum sind für die Rechtsextremen eine zentrale Strategie, um das politische Establishment in Panik zu versetzen, den öffentlichen Diskurs nach rechts zu verschieben und Kooperationen auf Landesebene vorzubereiten. Diese Entwicklungen stehen stellvertretend für Demokratiegefährdungen, deren Muster wir auch in Bayern, Frankreich, Polen oder in den USA sehen.
Ich fürchte aber: Selbst im Fall eines AfD-Gewinners wird die öffentliche Debatte nicht über die üblichen Plattitüden über "den Osten", Protest oder Gendern hinauskommen, anstatt sich selbstkritisch mit unbequemen Zusammenhängen wie falschen Versprechen, dem radikalisierten Kapitalismus und den Schattenseiten der Globalisierung oder mit strukturellem Rassismus zu befassen.
Das Interview wurde schriftlich geführt. Die Fragen stellte Belinda Grasnick, tagesschau.de.