Debatte im Plenarsaal des Landtags in Erfurt
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Nach der Wahl in Thüringen  Fallstricke für den neuen Landtag

Stand: 07.09.2024 15:27 Uhr

Nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen stellt sich die Frage, wie ohne die AfD regiert werden kann. Vor allem in Thüringen steht eine komplizierte Regierungsbildung bevor. Die wichtigsten Rechtsfragen im Überblick. 

Von Max Bauer und Philip Raillon, ARD-Rechtsredaktion

Wie wird die erste Landtagssitzung ablaufen?

Spätestens am 30. Tag nach der Wahl, also am 1. Oktober 2024, muss der Landtag in Thüringen zusammentreten. Doch schon in der ersten Sitzung des Landtags könnte es zu politischen Konflikten über die richtigen Abläufe kommen. Deshalb ist es sehr wichtig, wer diese erste Sitzung leitet. Voraussichtlich wird das der 73-jährige AfD-Abgeordnete Jürgen Treutler machen, denn er ist im neuen thüringischen Landtag der älteste Abgeordnete.

In der Geschäftsordnung des Bundestags ist das übrigens anders geregelt. Dort leitet nicht der älteste, sondern der dienstälteste Parlamentarier die erste Sitzung. 2021 war das Wolfgang Schäuble von der CDU und nicht Alexander Gauland von der AfD, der ein Jahr älter als Schäuble und damals der Älteste im Bundestag war. Der Bundestag hatte das erst kurz vor der vergangenen Wahl geändert.

Der Alterspräsident des thüringischen Landtags ernennt in der ersten Sitzung zunächst zwei vorläufige Schriftführer und lässt die Namen der Abgeordneten aufrufen. Das ist wichtig, um die Beschlussfähigkeit festzustellen. Wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder anwesend ist, ist der Landtag beschlussfähig. Danach sieht die Geschäftsordnung vor, dass als erstes ein neuer Landtagspräsident gewählt wird. Erst danach steht die Wahl eines Ministerpräsidenten an.

Wie wird ein Landtagspräsident gewählt?

Ein Vorschlagsrecht für die Wahl des Landtagspräsidenten hat die stärkste Fraktion im Landtag. Das wäre also die AfD. Ein Kandidat der AfD bräuchte aber die Mehrheit der jeweils abgegeben Stimmen. Wenn also die Mehrheit mit Nein stimmt, ist der Kandidat der AfD nicht gewählt. Wenn kein Kandidat der AfD die anderen Abgeordneten überzeugt, wie das bei der Wahl der Bundestagsvizepräsidenten seit Jahren der Fall ist, stellt sich die Frage, wie es weitergeht.

Leider ist diese Situation nicht genau geregelt. In der Geschäftsordnung steht zwar, dass neue Bewerberinnen und Bewerber vorgeschlagen werden können, wenn ein Kandidat nicht gewählt wird. Aber wie das genau abläuft und ob zum Beispiel die zweitstärkste Fraktion nach der AfD zum Zug kommt, ist nicht ausdrücklich festgelegt.

Hier spielt wieder der Alterspräsident eine Rolle, der die Wahl leitet. Er könnte etwa der AfD immer wieder das Vorschlagsrecht gewähren. Wenn die dann jeweils neue, erfolglose Kandidaten für den Landtagspräsidenten vorschlägt, gäbe es eine Hängepartie.

Auflösbar wäre die nur auf einem anderen Weg: Im Einzelfall kann eine Mehrheit im Landtag auch von den Vorschriften der Geschäftsordnung abweichen. Nötig wäre dafür die Mehrheit aller Parlamentarier, also mindestens 45 Ja-Stimmen. CDU, SPD, BSW und Linke könnten also die Wahlvorschläge der AfD mit eigenen Kandidaten beantworten und über diese abstimmen lassen. Wie der Alterspräsident mit einer solchen Situation umgeht, ist aber völlig offen.

Wie wird der Ministerpräsident gewählt?

Verfassungsrechtlerinnen und Verfassungsrechtler fragen sich, was passiert, wenn die AfD keinen Kandidaten für den Landtagspräsidenten durchbringt und ein AfD-Alterspräsident dann einfach zur Wahl des Ministerpräsidenten aufruft. Oder wenn er direkt am Beginn der ersten Sitzung die Ministerpräsidentenwahl ansetzt.

Das wäre zwar ein Verstoß gegen die Geschäftsordnung, die die Reihenfolge der Wahlen klar regelt: zuerst die Wahl eines Landtagspräsidenten, dann die Wahl zum Ministerpräsidenten. Eine Klage dagegen vor dem thüringischen Verfassungsgerichtshof wäre aber nicht unbedingt erfolgversprechend, weil die Verfassung selbst zu dieser keine Vorgaben macht.

Die AfD könnte auf eine rasche Wahl des Ministerpräsidenten drängen. Vor allem, wenn sich die demokratischen Parteien im Landtag in den nächsten Tagen und Wochen nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten für den Ministerpräsidenten einigen können. Bei dessen Wahl im Landtag ist in den ersten beiden Wahlgängen eine absolute Mehrheit aller Abgeordneten nötig, also mindestens 45 Stimmen. Die AfD hat 32 Stimmen. Nur die eigenen Stimmen reichen also nicht aus, um einen AfD-Ministerpräsidenten zu wählen.

Im dritten Wahlgang ist das aber anders. Hier kommt es nur darauf an, dass ein Kandidat die meisten Ja-Stimmen bekommt. Mehr Nein-Stimmen zählen hier nicht, sondern allein die Ja-Stimmen. Würden also neben einem AfD-Kandidaten mehrere Konkurrenten anderer Parteien antreten, weil CDU, SPD, BSW und Linke sich nicht einig sind, könnte die AfD doch zum Zug kommen. Es könnten sich nämlich die Stimmen der anderen Parteien so verteilen, dass am Ende der AfD-Kandidat die meisten Ja-Stimmen hat.

Um einen Ministerpräsidenten Björn Höcke zu verhindern, reicht es also nicht, dass alle anderen Parteien gegen ihn sind. Sie müssten sich positiv zu einem gemeinsamen Kandidaten bekennen.

Was bedeutet Sperrminorität?

Die AfD ist im neuen Thüringer Landtag die stärkste Kraft. Sie hat 32 von 88 Mandaten errungen und stellt damit ein Drittel aller Abgeordneten. Sie hat damit die sogenannte Sperrminorität, die auch einer Minderheit Macht verleiht.

Eine Sperrminorität gibt es bei allen Abstimmungen, bei denen eine Zwei-Drittel-Mehrheit vorgesehen ist. Zwei-Drittel-Mehrheiten haben eigentlich den Zweck, bei besonders wichtigen Angelegenheiten eine große Mehrheit hinter einer Entscheidung zu vereinen. So kann nicht eine Mehrheitspartei allein ihre Inhalte durchsetzen, sondern muss überparteilich einen Kompromiss suchen, um auf Zwei-Drittel der Stimmen zu kommen.

Bei Verfassungsänderungen zum Beispiel sind Zwei-Drittel-Mehrheiten üblich. Der Nachteil: Wenn sich zwei Drittel einig werden müssen, kann ein Drittel der Abgeordneten die Entscheidung blockieren.

Im Fall der AfD bedeutet das: Sie ist Wahlsieger, hat aber ohne Koalitionspartner nicht die Chance, große Änderungen herbeizuführen. Da sie aber mehr als ein Drittel der Abgeordneten stellt, hat sie durch ihre Sperrminorität doch erheblichen Einfluss. Sie kann nicht nur wichtige Entscheidungen blockieren, sondern das auch als politisches Druckmittel einsetzen.

Was kann die AfD alles verhindern?

Die thüringische Verfassung knüpft eine ganze Reihe wichtiger Entscheidungen an eine Zwei-Drittel-Mehrheit, bei denen die AfD ihre Sperrminorität einsetzen könnte. So sind Verfassungsänderungen, die Wahl der Verfassungsrichter oder die Auflösung des Landtags künftig ohne die AfD nicht mehr möglich. In Thüringen gibt es außerdem Besonderheiten, die der AfD weiteren Einfluss geben.

In Thüringen muss laut Landesverfassung der Richterwahlausschuss zustimmen, damit Richter oder Staatsanwälte auf Lebenszeit ernannt werden können. Das gilt für ganz normale Richter, also etwa solche an den Amtsgerichten. Ein Großteil der Ausschussmitglieder wird vom Landtag gewählt - jeweils mit Zwei-Drittel-Mehrheit. Die AfD könnte sich also querstellen, was erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit der Justiz haben dürfte.

Aus dem gleichen Grund kann der Thüringer Landtag künftig auch nur mit den Stimmen der AfD die Öffentlichkeit von Sitzungen ausschließen. Ebenso wird die AfD beim Landesrechnungshof mitreden können. Der Präsident und Vizepräsident dieser wichtigen Behörde werden ebenfalls mit Zwei-Drittel-Mehrheit gewählt. Der Landesrechnungshof überwacht die Landesregierung etwa bei der Ausgabe von Steuergeldern.

Auch auf die Parlamentarische Kontrollkommission könnte die AfD nun Einfluss bekommen. Diese überwacht den Landesverfassungsschutz. Die fünf Mitglieder der Kommission müssen jeweils von zwei Drittel der Landtagsabgeordneten gewählt werden. Das ergibt sich aus dem Thüringer Landesverfassungsschutzgesetz. Dieses hat keinen Verfassungsrang und könnte der Landtag daher ändern. Dafür bräuchte er nicht zwei Drittel der Stimmen, sondern nur eine einfache Mehrheit.

Wie kann es Neuwahlen geben?

Wenn die Parteien sich in den kommenden Wochen nicht auf eine Zusammenarbeit oder zumindest Duldung einer Minderheitsregierung einigen, könnten Neuwahlen ein naheliegender Schluss sein. Doch so einfach ist es nicht.

Die Thüringer Landesverfassung sieht nur zwei Möglichkeiten für Neuwahlen vor. Die eine ist eine Auflösung des Landtages, wozu sich aber zwei Drittel der Mitglieder aussprechen müssten. Sprich: Ohne die AfD-Stimmen wäre das nicht möglich.

Die Alternative ist eine erfolglose Vertrauensfrage des Ministerpräsidenten. Doch das setzt voraus, dass es einen Ministerpräsidenten gibt, der diese Frage stellt. Er müsste also Zweifel am Vertrauen des Landtages haben und zu Neuwahlen bereit sein. Aktuell ist aber nicht absehbar, wer überhaupt Ministerpräsident wird.

Welche Rolle spielt der Verfassungsgerichtshof?

Dem Verfassungsgerichtshof kommt bei politischen Streitigkeiten eine entscheidende Rolle zu. Organe der Landesregierung oder auch einzelne Fraktionen können den Gerichtshof im Wege eines Organstreitverfahrens anrufen, wenn sie durch andere Landesorgane die Thüringer Landesverfassung verletzt sehen. Der Gerichtshof kann dann die Feststellung treffen, dass bestimme Maßnahmen verfassungswidrig waren.

So ein Verfahren dauert allerdings in der Regel mehrere Monate. Nach Auskunft des Gerichtshofs in Thüringen bereite man sich derzeit auf bestimmte rechtliche Fragestellungen vor, um im Fall einer Klage vorbereitet zu sein. Eine Entscheidung soll so in wenigen Wochen statt Monaten, ermöglicht werden.

Eine Herausforderung dürfte allerdings die Kapazität des Gerichts in Weimar sein. Die neun Mitglieder sind alle nur Verfassungsrichter im Nebenamt und hauptberuflich etwa als Richter, Rechtsanwalt oder Professorin tätig. Außerdem gibt es nur zwei wissenschaftliche Mitarbeiter, die bei der Vorbereitung der Entscheidungen helfen, und eine Geschäftsstelle. Das könnte ein praktisches Problem für schnelle Entscheidungen des Gerichtshofs sein. Und bei einer politischen Hängepartei ist Zeit ein wichtiger Faktor.

Für schnelle Maßnahmen hat der Gerichtshof noch das Instrument der einstweiligen Anordnung. Wendet sich ein klageberechtigtes Organ an den Gerichtshof, kann dieser das Vorgehen anderer Organe vorläufig unterbinden. Dafür muss es aber einen wichtigen Grund geben. Eine Anordnung des Verfassungsgerichtshofs nützt nur etwas, wenn sich alle Akteure im Landtag an eine Entscheidung des Gerichtshofs halten und sie umsetzten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR Thüringen am 06. September 2024 um 19:00 Uhr.