Soziale Isolation durch Corona "Wir sind keine Einzelgänger"
Homeoffice, soziale Isolation und Ausgangssperren widersprechen dem Wesen des Menschen, sagt Psychologie-Professor Margraf. Doch Routinen und der Gedanke daran, wozu die Maßnahmen dienen, machen all das erträglicher.
tagesschau.de: Die Bundesregierung rät dazu, soziale Kontakte drastisch zu reduzieren und auf Twitter trendet der Hastag "#StayAtHome". Menschen sind durch das Coronavirus also viel mehr allein als früher. Welche Auswirkungen hat die soziale Isolation auf den Einzelnen?
Jürgen Margraf: Typischerweise sind das negative Auswirkungen, denn wir sind soziale Wesen. Als Menschen haben wir uns historisch in kleinen Verbänden entwickelt mit einigen Dutzend Individuen. Dieses Umfeld ist für uns überlebensrelevant gewesen, evolutionär sind wir keine Einzelgänger. Wir brauchen diese Kontakte.
Menschen, die isoliert sind, fühlen sich schnell abgeschnitten und einsam und damit auch ängstlich und depressiv. Es gibt natürlich Ausnahmen und es gibt auch Zeitverläufe. Wenn Sie sich die ganze Zeit überlastet gefühlt haben, weil Sie viel um die Ohren hatten und nun endlich etwas kürzer treten können, dann erleben Sie die Isolation vorübergehend sicher positiv. Nach einer Weile wird aber auch hier die negative Reaktion folgen. Extrovertierte Menschen brauchen hingegen grundsätzlich viele soziale Kontakte, die fühlen sich dann unmittelbar abgeschnitten. Die telefonieren jetzt natürlich mehr und nutzen Medien, um ihr soziales Netz zu pflegen. Introvertierten Menschen fällt das schwerer.
Routine und Freiwilligkeit
tagesschau.de: Welche Maßnahmen kann jeder ergreifen, um die soziale Isolation für sich erträglicher zu machen?
Margraf: Man sollte sich nicht passiv zurückziehen, das ist gefährlich. Ein ganz wichtiger Punkt sind Routinen: Versuchen Sie, Normalität herzustellen. Sie müssen sich selbst austricksen. Um nicht in Angst zu verfallen, hilft es, weiterhin zur gleichen Zeit aufzustehen - auch wenn man keine festen Termine hat. Es ist gut, sich so anzuziehen, als ginge man ins Büro, auch wenn man im Homeoffice arbeitet.
Man kann in der sozialen Isolation auch Dinge erledigen, die man sonst aufgeschoben hat, wie etwa den Keller aufzuräumen. Außerdem empfehle ich, nicht den ganzen Tag Nachrichten zu konsumieren, sondern nur in einem klar begrenzten Zeitraum morgens oder abends, sonst kreisen die Gedanken den ganzen Tag um die Ereignisse.
Zurückhaltung, um sich und andere nicht zu gefährden
tagesschau.de: In einigen Nachbarländern Deutschlands gelten bereits Ausgangssperren, das heißt, die Bevölkerung darf nur noch in absolut notwendigen Fällen das Haus verlassen. Wie gelingt es, damit gut umzugehen?
Margraf: Die Ausgangssperre wirft eine ganz grundlegende Frage auf: Für unseren Umgang mit Stress und Ausnahmesituationen ist es wesentlich, ob wir sie als kontrollierbar oder wenigstens als vorhersagbar erleben. Jeder Einzelne sollte sich also überlegen, warum es diese Einschränkungen des sozialen Lebens gibt. Wenn ich mir nun sage: "Ich bin eingesperrt, will raus, aber kann nicht", dann werde ich das sehr negativ verarbeiten.
Es ist sehr viel besser, sich Gedanken zu machen, wofür das Ganze gut ist und es sich dann zu eigen zu machen. Wenn ich weiß, was die Maßnahmen nützen - mir, denen, die mir nahestehen, und letztlich der gesamten Menschheit - dann mache ich das zu meiner eigenen Angelegenheit und dann ist es sogar freiwillig: Ich halte mich zurück, damit ich andere und mich nicht gefährde. Dazu hat ja auch die Bundeskanzlerin in ihrer Ansprache aufgerufen. Solche Vorbilder sind jetzt wichtig.
Klare Krisenkommunikation hilft
tagesschau.de: Solche klaren Anordnungen haben also auch psychologisch positive Aspekte?
Margraf: Wenn die Bundesregierung klar und transparent kommuniziert, wird die Situation für die Menschen vorhersagbarer. Das reduziert Stress. Wenn die Bevölkerung über die Entwicklung von Impfstoffen, den Nachschub von medizinischem Gerät usw. auf dem Laufenden gehalten wird und es klare Regeln gibt, dann kann das auch das individuelle Kontrollgefühl erhöhen.
tagesschau.de: Welche Auswirkungen haben die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus auf Menschen mit psychischen Problemen wie Depressionen oder Angststörungen?
Margraf: Für Menschen mit Depressionen, Angststörungen oder auch Suchterkrankungen ist die Situation schwierig. Depressive Menschen ziehen sich jetzt vielfach zurück. Für die Angstpatienten ist die große Gefahr das Grübeln. Sie geraten in negative Gedankenspiralen. Suchtpatienten neigen ohne ihren gewohnten Tagesablauf dazu, ihr Suchtverhalten stärker als sonst auszuleben. Für diese Risikogruppen wollen wir eine bundesweite Hotline aufbauen.
Krisensolidarität oder Egoismus?
tagesschau.de: Die einen hamstern beim Lebensmitteleinkauf, andere bieten Nachbarn Hilfe bei alltäglichen Besorgungen an: Rückt die Gesellschaft durch Ereignisse wie Corona eher enger zusammen oder neigen die Menschen in potenziell bedrohlichen Situationen zu Egoismus?
Margraf: Es ist schwierig zu beziffern, aber die Mehrheit rückt in Krisen zusammen und hält auch zusammen. "Jeder gegen Jeden", das gibt es allenfalls in Paniksituationen. Unter normalen Umständen steht die Solidarisierung im Vordergrund. Ich bin auch bei Corona zuversichtlich. Wir sitzen alle im selben Boot und werden das auch gemeinsam meistern. Es wird nicht leicht, aber wir haben alle die gleichen Interessen.
Und wenn Sie drohen, von Ängsten überwältigt zu werden, können Sie es auch rational sehen: Es bringt nichts, alle Gedanken und Ressourcen nur auf Corona zu verschwenden. Man sollte sich nach wie vor gesund ernähren, bewegen und Kontakte pflegen - so gut es unter diesen Umständen eben geht. Das alles sollten Sie nicht aufgeben, dann werden Sie gut durch die Krise kommen.
Das Interview führte Lena Klimpel, tagesschau.de