Interview

Interview zum Hochwasserschutz "Vieles hat besser funktioniert als 2002"

Stand: 08.06.2013 06:03 Uhr

Bessere Deiche, steuerbare Polder: Im Hochwasserschutz hat sich seit 2002 einiges getan, sagt Wasserbau-Experte Jürgen Stamm im Interview mit tagesschau.de - und beschreibt, wie neue Messmöglichkeiten den Umgang mit Hochwassern erleichtern.

tagesschau.de: Der Osten Deutschlands kämpft nach dem August-Hochwasser 2002 an der Elbe erneut gegen die Fluten. Wurden aus der Katastrophe von damals die richtigen Schlüsse für heute gezogen?

Jürgen Stamm: Im Grunde ja. Allein in Sachsen wurden 47 regionale Maßnahmenpakete für den Hochwasserschutz beschlossen. Zahlreiche Maßnahmen wurden begonnen, viele auch abgeschlossen. Insgesamt hat die Politik dort etwa 1,3 Milliarden Euro investiert, um die bedrohten Gebiete besser zu schützen. Zum Beispiel wurden Deiche ertüchtigt oder weiter ins Hinterland verlegt, damit die Flüsse im Notfall mehr Raum haben. Zudem wurden Flüsse ausgebaut, damit sie mehr Wasser abführen können sowie Hochwasserrückhaltebecken, um Wasser zusätzlich zu den Talsperren zurückzuhalten.

Aber neben der technischen Möglichkeit steht auch immer die Frage der Realisierung seitens der Verwaltung und der Akzeptanz der Bevölkerung. Die Projekte müssen lange öffentlich-rechtliche Genehmigungsverfahren durchlaufen. Diese werden leider oft noch von Bürgerinitiativen in die Länge gezogen. Hier muss die Politik reagieren, damit wir zu kürzeren, beschleunigten Verfahren kommen. Es kann nicht sein, dass dringend benötigte Hochwasserschutzmaßnahmen Dekaden brauchen, bis sie bewilligt und realisiert werden.

 

Zur Person
Jürgen Stamm ist Professor für Wasserbau an der Technischen Universität Dresden. Sein Spezialgebiet ist Hochwasserforschung. Bis 2008 arbeitete er bei der Bundesanstalt für Wasserbau in Karlsruhe als Abteilungsleiter.

"Balance zwischen Hochwasserschutz und Denkmalschutz"

tagesschau.de: Können Sie ein Beispiel für solch eine Verzögerung nennen?

Stamm: In Grimma an der Mulde, das 2002 von den Fluten schwer getroffen worden war, gab es ein langes Hin und Her um die richtige Balance zwischen Hochwasserschutz und Denkmalschutz. Insbesondere ging es darum, eine  technische Schutzanlage in das bestehende historische Stadtbild zu integrieren. Ein Problem bestand darin, eine schwer beschädigte Brücke so zu restaurieren, dass sie einerseits dem historischen Original nahe kommt und andererseits den Fluten im Ernstfall standhält.

Mittlerweile ist die Brücke zwar aufgebaut - die Schutzwände wurden teilweise in die historischen Gemäuer integriert - aber Teile des ursprünglichen Hochwasserschutzkonzeptes konnten nicht umgesetzt werden, weil es nicht zum Abschluss der Genehmigung kam. Das lag aber nicht an der Verwaltung, sondern an den politischen Rahmenbedingungen und Gerichtsverfahren, die das Ganze hinausgezögert haben. Die Umsetzung aller Maßnahmen ist eine Generationenaufgabe.

"Heutzutage gibt es bessere Schutzmöglichkeiten"

tagesschau.de: Hochwasserschutz ist ein jahrhundertealtes Problem. Abgesehen von Dämmen und Schutzwänden - welche Alternativen bietet der moderne Wasserbau?

Stamm: Über lange Zeit konzentrierte man sich im Wesentlichen auf die schnelle Wasserableitung durch Eindeichung. Deiche wurden oft verstärkt und erhöht, die dezentrale Rückhaltung wurde weniger beachtet, das stimmt. Dann wurden vermehrt Rückhaltebecken und Polder gebaut. Seit geraumer Zeit gibt es aber auch weiterführende Alternativen, die mit den verbesserten Informations- und Messmöglichkeiten zu tun haben.

Wir haben heutzutage exaktere Informationen, was aktuelle und zu erwartenden Pegelstände angeht - und das hilft uns, die Fluten besser zu managen. Ein Beispiel: Es gibt Ausweichflächen entlang der Flüsse - sogenannte Polder-, die sich genau steuern lassen. Sie werden nicht planlos geflutet, wenn die Wassermassen näher rücken.

Stattdessen kann man aufgrund der Wasserstandsvorhersage genau berechnen, wann und wie viel Wasser in die Polder geleitet werden muss, damit der Scheitelpunkt der Hochwasserwelle maximal reduziert werden kann. Denn im Hochwasserfall zählt jeder Zentimeter. Im besten Fall lassen sich dann Polder, Rückhaltebecken und Talsperren koordinieren, so dass man ein ganzes Einzugsgebiet besser sichern kann. Da liegt eine große Zukunft drin.

"Niemand wird zwangsenteignet"

tagesschau.de: Umweltschützer argumentieren, dass in Deutschland nach wie vor zu nah an Flüssen gebaut wird und darin das eigentliche Problem beim Thema Hochwasser liegt. Sehen Sie das auch so?

Stamm: Ein klares Jein. Einerseits bauen wir seit Menschengedenken an Flüssen, die ja letztlich die Lebensader unserer Erde sind. Insofern bin ich nicht pauschal für Baustopps, schließlich gibt es längst gesetzliche Regelungen, wonach in eindeutig ausgewiesenen Überschwemmungsgebieten keine neuen Häuser mehr entstehen dürfen. Auf der anderen Seite sind Rückhalteflächen an den Flüssen enorm wichtig. Daher hat nach den Erfahrungen aus dem Jahr 2002 das Land Sachsen auch dort, wo es möglich war, gefährdete Grundstücke aufgekauft, die geflutet werden können. Aber auch hier gilt wieder: Niemand wird zwangsenteignet. Wer darauf beharrt, seine bestehenden Flächen weiter zu nutzen, darf das.

Es ist jedoch zu kurz gesprungen, wenn man glaubt, die Entsiegelung allein dieser Überflutungsflächen hilft, um die Versickerung zu erhöhen und so den Hochwasserabfluss zu reduzieren. Oft ist der Boden nach langem Regen wassergesättigt und kann zusätzliches Wasser dann nicht aufnehmen. Das sieht man beispielsweise, wenn man mit dem Zug unterwegs ist und hektarweise überflutete Flächen sieht. Wir dürfen nicht vergessen, dass Hochwasser ein natürliches Ereignis ist, das sich nicht komplett beherrschen lässt. 

"Vieles hat besser funktioniert als 2002"

tagesschau.de: Verglichen mit der Situation 2002 - hat diesmal die Zusammenarbeit der Behörden der verschiedenen Bundesländer besser geklappt?

Stamm: Organisatorisch hat vieles wesentlich besser funktioniert. Auch die Hilfsarbeiten vor Ort - etwa in Dresden - liefen ruhiger ab. Gut war auch die Zusammenarbeit mit Tschechien. Dort wurde die Elbe - so gut es geht - koordiniert abgelassen, sonst hätte es Dresden noch viel härter getroffen. Ob die Situation heute schlimmer ist als 2002, ist regional zu beantworten. Je besser die Oberlieger die Fluten im Zaum halten können, umso mehr Wasser bleibt eben auch im Fluss. Das ist das Paradoxon. Die Unterlieger müssen umso mehr Wasser bewältigen. Aus dieser Sicht haben sogar Deichbrüche etwas Positives - für die einen, nicht für die anderen.  

Das Interview führte Jörn Unsöld, tagesschau.de.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 07. Juni 2013 um 20:00 Uhr.