Schülerinnen in einem Klassenzimmer - in Baden-Württemberg wird der Türkisch-Unterricht von den Herkunftsländern organisiert. Dieses Vorgehen sorgt für Kritik.

Baden-Württemberg Debatte um Türkisch-Unterricht in BW: Erdogans langer Arm in die Klassenzimmer?

Stand: 01.12.2024 06:31 Uhr

Die Herkunftsländer sind in BW für Zusatzunterricht in der Muttersprache zuständig. Kritiker befürchten, dass die Erdogan-Regierung Einfluss auf den Türkisch-Unterricht nimmt.

Michael Beck hat sogar einen Brief an den Ministerpräsidenten geschrieben. Dem Tuttlinger Oberbürgermeister von der CDU ist nämlich "der Kragen geplatzt" - so schreibt es zumindest der "Südkurier". Der Grund: das sogenannte "Konsulatsmodell". Es sieht vor, dass muttersprachlicher Unterricht in Baden-Württemberg von den Konsulaten anderer Länder organisiert wird und nicht der staatlichen Schulaufsicht unterliegt.

Problematisch findet Beck das vor allem mit Blick auf den Türkisch-Unterricht. Der türkische Staat ist seit seiner Umstellung auf ein Präsidialsystem 2017 zu großen Teilen auf Präsident Recep Tayyip Erdogan zugeschnitten, die Konsulate sind dem Staat unterstellt. "Wir lassen es zu, dass ein islamistischer Autokrat direkt in unsere Klassenzimmer hineinwirkt", so der Tuttlinger OB.

Tuttlinger OB möchte zum Thema nichts mehr sagen

Mit dem SWR und anderen Medien möchte Beck nicht mehr über den Brief sprechen. Man habe den Eindruck, "dass dieses Thema auf den zuständigen politischen Ebenen nicht auf sonderliches Interesse stößt", schreibt ein Sprecher des Tuttlinger Oberbürgermeisters auf SWR-Anfrage. Beck bitte daher um Verständnis dafür, dass er dazu keine weiteren Interviews mehr gebe.

Vielleicht hängt Becks plötzliche Zurückhaltung auch damit zusammen, dass ihm ein schwerer Fehler unterlaufen ist. So behauptet er in seinem Brief an Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), der muttersprachliche Türkisch-Unterricht werde in Baden-Württemberg von der Ditib organisiert, der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion.

Keine Belege für Organisation durch Ditib

Auf SWR-Anfrage rudert sein Sprecher zurück: Das mit der Ditib stimme nicht. Eine Fehlinformation, die der "Südkurier" übernommen hat, sogar als Überschrift: "Islam-Verband Ditib unterrichtet Türkisch in den Schulen" (Stand: 30.11.2024). Wie der Tuttlinger Oberbürgermeister zu dieser Behauptung gekommen ist, erklärt sein Sprecher nicht.

Falsch ist auch Becks Behauptung, die Ditib werde vom Verfassungsschutz beobachtet. Die Ditib ist zwar hochumstritten, aber kein Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes. Auch diese Falschinformation steht sowohl in Becks Brief an Kretschmann als auch im "Südkurier". Sie stand auch in einer Pressemitteilung, die die Stadt Tuttlingen zu dem Thema veröffentlicht hat. Die Pressemitteilung ist weiterhin online, jeglicher Verweis auf die Ditib wurde allerdings getilgt – ohne einen Hinweis darauf, dass an dem Text im Nachhinein Änderungen vorgenommen wurden.

Aras findet Türkisch-Unterricht "mindestens tendenziös"

Den Ditib-Vorwurf hat Tuttlingens Oberbürgermeister also zurückgezogen, für die Behauptung gibt es keine Belege. Unabhängig davon sorgt das Konsulatsmodell für den muttersprachlichen Unterricht in Baden-Württemberg aber immer wieder für Diskussionen. Das gilt vor allem für den Türkisch-Unterricht. Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) sagte bereits 2017, dieser sei "mindestens tendenziös". Sie forderte, den muttersprachlichen Unterricht unter deutsche Schulaufsicht zu stellen. An ihrer Haltung habe sich bis heute nichts geändert, erklärt Aras auf SWR-Anfrage.

Auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann sah schon 2017 Handlungsbedarf: "Damit müssen wir uns beschäftigen." Nun verweist er auf den grün-schwarzen Koalitionsvertrag von 2021. Darin steht: "Den muttersprachlichen Unterricht wollen wir, nach dem Vorbild anderer Bundesländer, in staatliche Verantwortung übernehmen und den Konsulatsunterricht abschaffen."

Konsulatsmodell nur noch in Bayern und Baden-Württemberg

Tatsächlich ist Baden-Württemberg neben Bayern das einzige Bundesland, in dem nicht der Staat, sondern die Herkunftsländer für den muttersprachlichen Unterricht zuständig sind. Daran hat sich auch nach der Absichtserklärung im Koalitionsvertrag nichts geändert.

In den Schulen im Land ist der Konsulatsunterricht ein Dauerthema. Nicht nur Tuttlingens Oberbürgermeister Beck berichtet, dass "das Misstrauen seitens der Schulen" immer größer werde – auch andere bestätigen das.

Manche Lehrer können angeblich weder Deutsch noch Englisch

"Viele Schulleiter haben ein ungutes Gefühl", sagt ein ehemaliger Rektor aus Baden-Württemberg. Er selbst habe unterschiedliche Erfahrungen gemacht: Lehrer aus anderen Ländern, die in einem guten und vertrauensvollen Kontakt zum Kollegium der Schule standen, die die Räume stellte; und andere, mit denen man nicht mal kommunizieren konnte, weil sie weder Deutsch noch Englisch sprachen.

Besonders negativ sei ihm ein türkischer Lehrer in Erinnerung geblieben: "Den habe ich sogar manchmal schreien gehört, wenn ich da am Unterrichtsraum vorbeiging", erinnert er sich: "Das war schon grenzwertig." Aber als Schulleiter habe er eben keine Möglichkeit gehabt, Einfluss zu nehmen - genauso wenig wie die Schulaufsichtsbehörden. Er fragt sich, wie die Länder die Lehrer auswählen, die nach Deutschland geschickt werden - insbesondere die Türkei.

Muttersprachlicher Zusatzunterricht an Schulen in BW
Im muttersprachlichen Zusatzunterricht lernen Kinder und Jugendliche nichtdeutscher Herkunft die Sprache des Herkunftslandes ihrer Eltern. Teil des Unterrichts sind auch die Geschichte und die Kultur des Herkunftslandes. Die inhaltliche und organisatorische Ausgestaltung unterliegt nicht der staatlichen Schulaufsicht, sondern der alleinigen Verantwortung der Herkunftsländer. Diese stellen auch die Lehrerinnen und Lehrer für den muttersprachlichen Unterricht, die Schulen stellen dafür lediglich ihre Räumlichkeiten zur Verfügung. Grundlage für den muttersprachlichen Zusatzunterricht ist eine EWG-Richtlinie über die schulische Betreuung der Kinder von Wanderarbeitnehmern aus dem Jahr 1977. Der Unterricht sollte sicherstellen, dass sich die Kinder nach der Rückkehr in ihre Heimatländer wieder in die dortigen Schulsysteme integrieren können. Heute ist das wichtigste Argument für den muttersprachlichen Unterricht, dass es die Sprachkompetenz von Kindern und Jugendlichen allgemein stärkt. In Baden-Württemberg wird muttersprachlicher Zusatzunterricht von 14 Herkunftsländern angeboten: Bosnien-Herzegowina, Griechenland, Italien, Kosovo, Kroatien, Makedonien, Polen, Portugal, Serbien, Slowenien, Spanien, Türkei, Tunesien und Ungarn. Es handelt sich um ein Angebot für Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunft, zusätzlich zum regulären Schulunterricht.

Türkisches Bildungsministerium für Auswahlverfahren zuständig

Das türkische Generalkonsulat in Stuttgart schreibt dazu auf SWR-Anfrage: Zuständig für die Auswahl der Lehrer sei das türkische Bildungsministerium. Neben einer abgeschlossenen Hochschulausbildung inklusive Pädagogikstudium sei "eine der Voraussetzungen im Auswahlverfahren, dass die Lehrkräfte über Kenntnisse der deutschen Sprache und, falls dies nicht möglich ist, der englischen Sprache verfügen".

Zum Inhalt des Unterrichts schreibt das Generalkonsulat, es erstelle dazu "umfassende Jahrespläne", die es dem Kultusministerium übermittle. Das Ministerium habe die Möglichkeit, "inhaltliche Korrekturen oder Überarbeitungen" vorzunehmen. Auch den staatlichen Schulämtern und den Schulleitungen würden die Pläne zur Verfügung gestellt. Was eventuelle Rückmeldungen von Schulleitern oder Eltern zum Unterricht selbst betreffe, stünde das Referat für Bildungswesen des Generalkonsulats ebenfalls in Kontakt mit den staatlichen Schulämtern.

Kultusministerium BW warnt vor Generalverdacht

Das Kultusministerium schreibt, solchen "Problemanzeigen" gehe man gezielt nach. Es handle sich dabei aber nur um "wenige Einzelfälle". Bei einem dieser Einzelfälle habe es vor einigen Jahren einen "politischen Hintergrund" gegeben: "Hier wurde die Lehrkraft dann auch vom Konsulat vom Unterricht abgezogen." Weiter schreibt das Ministerium, es scheine "derzeit nicht gerechtfertigt, aufgrund von Einzelfällen den türkischen Konsulatsunterricht unter Generalverdacht zu stellen".

Dass die Organisation des muttersprachlichen Zusatzunterrichts trotz Bedenken weiter in der Verantwortung der Herkunftsländer liegt, hat vor allem finanzielle Gründe. "Bei einer staatlichen Übernahme des Konsulatsunterrichts sprechen wir von einer groben Größenordnung im hohen zweistelligen Millionenbereich pro Jahr", so das Kultusministerium. Abgesehen von den finanziellen Fragen sei auch völlig unklar, wie der personelle Bedarf gedeckt werden sollte.

"Aus der Zeit gefallen" oder gar "integrationsfeindlich"?

Trotzdem bekräftigen die Regierungsfraktionen das Ziel, den muttersprachlichen Unterricht in staatliche Verantwortung zu übernehmen. "Der türkische Konsulatsunterricht steht unter Verdacht, tendenziös und integrationsfeindlich zu sein", sagt Andreas Sturm, bildungspolitischer Sprecher der CDU. Thomas Poreski von den Grünen ist der Ansicht, "dass der Inhalt und die Pädagogik dieses Unterrichts in einigen Fällen – etwa der Türkei – nicht dem Standard eines demokratischen Rechtsstaats entsprechen". Das Konsulatsmodell sei "aus der Zeit gefallen". Allerdings sei es "aufgrund der aktuellen Haushaltssituation nicht möglich", die Abschaffung des Konsulatsunterrichts in dieser Legislatur umzusetzen.

SPD fordert schrittweise Überführung in staatliche Verantwortung

Von allen im Landtag vertretenen Parteien ist nur die AfD grundsätzlich gegen den herkunftssprachlichen Unterricht: "Das Erlernen der Muttersprache für Ausländer ist Privatangelegenheit", so AfD-Bildungspolitiker Rainer Balzer. SPD und FDP hingegen betonen, dass sie herkunftssprachlichen Unterricht "richtig und wichtig" finden. Er gehöre aber unter staatliche Aufsicht, so FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke.

Die SPD hatte bereits 2018 in einem Positionspapier gemeinsam mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) gefordert, den Unterricht schrittweise durch ein staatlich verantwortetes Angebot an den Schulen abzulösen. Mit einem entsprechenden Antrag habe man das bei den Haushaltsberatungen vergangene Woche bekräftigt: "Es ist uns unverständlich, warum Grün-Schwarz diesen zum wiederholten Male abgelehnt hat", so SPD-Bildungspolitiker Stefan Fulst-Blei.

Tuttlingens Oberbürgermeister Michael Beck wird auf seinen Brief keine persönliche Antwort von Ministerpräsident Winfried Kretschmann bekommen. Das Staatsministerium hat den Brief "an das fachlich zuständige Kultusministerium abgegeben", sagte ein Sprecher dem SWR. Das Kultusministerium hat nach eigenen Angaben inzwischen ein Antwortschreiben formuliert. Es soll in wenigen Tagen in Tuttlingen eintreffen.

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