
Baden-Württemberg Kirchenasyl als letzte Zuflucht? 26 Menschen kamen 2024 in BW in Gemeinden unter
Während CDU und SPD eine Verschärfung der Asylrechte debattieren, nehmen Kirchengemeinden Flüchtlinge auf, um sie vor Abschiebungen zu schützen. Aber das Kirchenasyl könnte kippen.
Bereits im Bundestagswahlkampf hatten die meisten Parteien mehr Abschiebungen gefordert. Jetzt diskutieren die SPD und die CDU/CSU in den Koalitionsverhandlungen über eine Verschärfung der Asylregeln und der Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Hans-Eckhard Sommer, stellte das individuelle Asylrecht in Frage.
Mit dem Kirchenasyl konkret helfen - 26 Fälle in BW vergangenes Jahr
Viele Gemeinden wählen währenddessen einen ganz anderen Weg: Sie nehmen abgelehnte Asylbewerber in besonderen Härtefällen im Kirchenasyl auf - in der Hoffnung, sie so vor einer Abschiebung zu bewahren. 26 Flüchtlinge kamen in Baden-Württemberg auf diese Weise im vergangenen Jahr in Kirchengemeinden unter. Deutschlandweit waren es 2.386 Menschen.
Ich habe noch nie solche Angst in den Augen eines Menschen gesehen." Elisabeth Sibert (Name geändert), Kirchengemeinderätin
So erinnert sich die Vorsitzende des Kirchengemeinderats einer evangelischen Kirchengemeinde in Baden-Württemberg an ihre erste Begegnung mit Hassan, dem Flüchtling, den sie anschließend bei sich unterbrachten. "Das hat mich so berührt, dass so ein junger Mensch so eine Angst in den Augen hat, wenn er erzählt wo er herkommt und wo er eventuell wieder hin zurück muss. Weil die Angst, die kann man nicht vormachen, wenn die so in den Augen ist."

26 Flüchtlinge kamen in Baden-Württemberg im vergangenen Jahr in Kirchengemeinden unter (Symbolbild)
Hassan kommt aus Syrien, war seit Kriegsbeginn auf der Flucht, sagt er. Erst lebte er im Libanon, dann machte er sich dann auf den Weg nach Europa. Weil er die Europäische Union erstmals in Bulgarien betrat, hätte er seinen Asylantrag dort stellen müssen, so ist es im Dublin-Verfahren geregelt. Aber er wollte nicht dorthin zurück - und die Gemeinde hatte Verständnis, sagt Pfarrerin Astrid Müller (Name geändert): "In Bulgarien herrschen katastrophale Zustände. Flüchtlinge, die von dort kommen, haben Folter erlebt, die waren inhaftiert, die wurden auf offener Straße zusammengeschlagen." Hassan dorthin zurückzuschicken - das kam für sie nicht in Frage.
Hilfe - auch psychisch
"Davor hatte ich immer Angst, konnte nicht schlafen, hatte keinen Bock auf nichts. Meine Laune war immer schlecht", erzählt Hassan. "Aber als ich hierher kam, fühlte ich mich in Frieden. Das war alles so gut." In der Kirchengemeinde unterzukommen - das hat ihm auch psychisch gut getan. Und das, obwohl er fortan wie eingesperrt war: Er durfte das Kirchengelände nicht verlassen, während er im Kirchenasyl etwa.
Davor hatte ich Angst, konnte nicht schlafen. Aber als ich hier unterkam, fühlte ich mich in Frieden." Hassan, Flüchtling im Kirchenasyl
Etwa sechs Monate musste er durchhalten, danach erlischt die sogenannte Überstellungsfrist, innerhalb derer die deutschen Behörden Flüchtlinge in die Staaten zurückschicken können. In dieser Zeit kaufte die Gemeinde für ihn ein, spielte mit ihm Billard oder Tischkicker, lud zu allen Gemeindeveranstaltungen ein, munterte ihn bei einer Tasse Kaffee auf - und gab ihm Deutschunterricht.
Streit um das Kirchenasyl - wenige Härtefälle werden akzeptiert
Mit dem Staat war ursprünglich etwas anderes verabredet: 2015 hatten sich die Vertreter Kirchen und des BAMF darauf geeinigt, dass Kirchengemeinden Flüchtlinge in begründeten Ausnahmen aufnehmen dürfen, um besondere humanitäre Härten zu vermeiden. Im Gegenzug sollen sie die Flüchtlinge bei sich melden und in sogenannten Dossiers darlegen, weshalb es sich dabei um Härtefälle handelt. Auf Basis der Dossiers sollte das BAMF den Asylantrag nochmals prüfen. Dann hätte der Flüchtling das Kirchenasyl wieder verlassen können, wenn sein Fall positiv geprüft worden wäre, weil Deutschland bei Härtefällen direkt übernimmt. Man bezeichnet das als Selbsteintritt. Aber im vergangenen Jahr fand nur ein solcher Selbsteintritt statt - bei rund 2.400 Fällen von Kirchenasyl.
Auf Seiten der Kirchen sorgt das für Unmut. "Ich finde das nicht ok. Ich glaube, das ist Politik, dass sie das nicht mehr machen", kritisiert Rechtsanwalt Manfred Weidmann, der die katholische und evangelische Kirche in Baden-Württemberg in Rechtsfragen zum Kirchenasyl berät. "Ich will nicht behaupten, dass es eine offizielle Anweisung gibt, dass sie keinen Selbsteintritt mehr machen. Man könnte aber den Eindruck haben. Vielleicht, indem man einfach sagt: In der Abteilung, die diese Härtefalldossiers bearbeitet, arbeiten nur noch zwei Leute. Und dann kommen die halt nicht hinterher."
Die Stimmung hat sich verhärtet
Das BAMF weist die Vorwürfe zurück. Die geringe Zahl an Selbsteintritten zeuge davon, dass "tatsächliche Härtefälle in der Regel bereits im Rahmen des Dublin-Verfahrens identifiziert werden". Die gemeldeten Kirchenasylfälle seien, "oft mit vermuteten systemischen Mängeln in den jeweils zuständigen Dublin-Mitgliedsstaaten begründet" worden.
Dietlind Jochims kennt diese Vorwürfe. Sie ist Vorsitzende der ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" - der Stelle, die im Austausch mit dem BAMF und dem Bundesinnenministerium stehen sollte. "Dr. Sommer, der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, ist ein deutlich erklärter Gegner des Kirchenasyls, ganz grundsätzlich", sagt sie. Die Stimmung habe sich verhärtet: "Es gibt keine regelmäßigen Gespräche mehr. Die Bereitschaft, sich miteinander hinzusetzen und Lösungen zu finden, hat abgenommen. Und im Moment sind beide Seiten, was Kirchenasyle angeht, irgendwie frustriert und genervt."
Nachsicht, Organisation und Gemeinschaft
Die evangelische Kirchengemeinde von Pfarrerin Müller* trägt das Kirchenasyl gemeinschaftlich. "Viele Leute gehen einkaufen, jemand trinkt Tee, mit demjenigen, jemand fragt, wie geht’s dir und es gehen hier ja viele Leute ein und aus in der Kirche, dadurch verteilt sich das auf viele Menschen. Es ist eine gemeinschaftliche Aktion, die zusammenschweißt."
Aber auch die Flüchtlinge im Asyl bringen sich ein. Paradebeispiel war Hassan, ihr erster Kirchenasyl-Fall. "Der ist immer rausgekommen und hat sofort gesagt: Wo kann ich helfen? Da gab es keine Hemmschwelle, mit ihm zu reden, ihn dazuhaben. Er kam im Advent und hatte direkt an seinen ersten Tag, draußen geholfen, den großen Adventskranz aufzubauen. So schnell ging das noch nie!", erinnert sich Elisabeth Siebert. Und Hassan bestätigt: "Wenn ich gehört habe, dass sich die Tür öffnet, habe ich geschaut: Wer kommt? Brauchen sie etwas? Kann ich etwas machen? Immer. Weil die Leute auch mir helfen."
Schlechte Nachrichten aus der Heimat
Auch jetzt kommt er fast jeden Tag vorbei - weil er in der Nachbarschaft wohnt. Und um den Flüchtlingen beizustehen, die jetzt im Asyl sind. Sechs Monate durchzuhalten, das fällt ihnen schwer, berichtet die ehrenamtliche Deutschlehrerin Andrea Roth (Name geändert). Sie ist jeden Tag für eine Stunde da, um mit ihnen Deutschunterricht zu machen und beobachtet da, "dass sie manchmal ein bisschen zittrig sind oder sich nicht so gut konzentrieren können, manchmal nicht ganz so ausgeglichen und fröhlich sind." Dann gab es schlechte Nachrichten aus der Heimat, vermutet sie, oder die beiden haben Heimweh.
Ihr ist wichtig, zu helfen. "Ich denke mir: Es könnten auch meine Söhne oder Enkel sein, die da irgendwo aufschlagen und da wäre ich auch dankbar, wenn da Menschen wären, die für Sie hilfreich sein könnten", sagt sie. Der Deutschunterricht hilft nicht nur bei der Verständigung, er sei auch einfach eine Beschäftigung. "Was sollen sie den ganzen Tag machen, wenn sie nur hier sich ein Essen kochen oder ein Puzzle zusammenlegen oder so. Das ist dann auch nicht so spannend. Und sie dürfen ja nicht spazieren gehen. Deshalb ist der Tag, glaube ich, auch sehr lang."
Tradition reicht bis in die Antike
Die Tradition des Kirchenasyls reicht bis in der Antike hinein. Schon immer wurde Menschen in Heiligtümern Schutz gewährt. In der Bundesrepublik gewährte erstmals 1983 eine Berliner Gemeinde Kirchenasyl, nachdem das Schicksal von Cemal Kemal Altun, einem türkischen Asylbewerber bekannt wurde, der sich nach der Ablehnung seines Asylantrags verzweifelt in den Tod stürzte. So weit darf es nie mehr kommen, das war das Ansinnen der Berliner Gemeinde damals.
Kirchenasyl auf der Kippe - BAMF spricht von zu vielen Fällen
Erst 2015 folgte mit der Absprache zwischen dem BAMF und Vertretern der Kirchen eine Regulierung des Kirchenasyls. Nun droht diese Abmachung zu kippen. Das BAMF kritisiert die hohe Zahl an Kirchenasyl-Fällen. Tatsächlich erreichte die Zahl der Fälle 2024 einen Höchststand. In den vergangenen fünf Jahren stieg sie stetig von 300 Fällen im Jahr 2020 auf fast 2.400 im vergangenen Jahr. Aber die Zahl schwankt: Auch vor Corona, etwa im jahr 2017 und 2018, wurden 1.500 Menschen im Kirchenasyl gemeldet. Und auch der neue Höchststand von rund 2.400 Kirchenasyl-Fällen sei im Vergleich zu den 70.000 Dublin-Fällen pro Jahr nicht viel, so Dietlind Jochims von der Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche".
Neben dieser Kritik nehmen die Fälle von Räumungen aus dem Kirchenasyl zu. Und auch die neue EU-Asylgesetzgebung könnte dazu führen, dass es keine oder kaum noch Gemeinden geben wird, die Kirchenasyl gewähren. Denn nach den geplanten Verfahren würde die Überstellungsfrist dann von sechs Monaten auf drei Jahre ausgeweitet werden. Und aktuell sind 99 Prozent der Kirchenasyl-Fälle sogenannte Dublin-Fälle.
Pfarrerin: "Wir werden weitermachen"
Dietmar Oppermann, der die Kirchenasylfälle in der Landeskirche Württemberg ans BAMF meldet, ist dennoch zuversichtlich, dass es in Baden-Württemberg nicht zu Räumungen kommen wird. Das liege an der geringen Zahl von Flüchtlingen im Kirchenasyl. Während im Bundesland 26 Flüchtlinge im Kirchenasyl waren, waren es in ganz Deutschland 2386 Menschen. Der Nachbar Bayern etwa bot im vergangenen 289 Menschen in der Kirche Schutz, und damit elf Mal so vielen Menschen.
Auch die Gemeinde, die Hassan untergebracht hatte, beobachtet die politischen Debatten und die Entwicklungen in Sachen Kirchenasyl mit Sorge. Und ist sich dennoch sicher: Sie werden weiterhelfen, sagt Pfarrerin Müller: "Egal was außenrum passiert, wir werden das weiter tun, wenn wir das für richtig halten. Und wir sehen: Die Lage ist ernst. Aber unser Glaube ist auch ernst."
Sendung am So., 6.4.2025 12:04 Uhr, Glauben, SWR Kultur