FIND 2025 | Medea's Kinderen © Michiel Devijver

Berlin Theaterkritik | Eröffnung FIND-Festival: Splatter und Kitsch an der Schaubühne

Stand: 05.04.2025 11:32 Uhr

Das FIND-Festival startet blutig: In Milo Raus belgischer Produktion "Medeas Kinder" metzeln Kinder einander nieder – der Ire Enda Walsh bringt in "Safe House" die traumatische Geschichte einer Obdachlosen als Pop-Oper auf die Bühne. Von Barbara Behrendt

"Es ist tatsächlich so, dass dieses Stück für manche Leute zu brutal ist", hatte der Schweizer Theatermacher im Gespräch mit Radio 3 vorab schon gewarnt – um dann nicht eben uneitel auf die vielen Preise zu verweisen, die sein Abend "Medeas Kinder" aus Gent international bereits gewonnen hat.

Ohnmachten im Publikum

Und tatsächlich: Als bei der Eröffnung des FIND-Festivals an der Schaubühne auf einer großen Leinwand so geschickt zwischen voraufgezeichneten Szenen, in denen die Kinderkehlen tief und blutspritzend durchschnitten werden, und Live-Aufnahmen aus dem kleinen Bühnen-Häuschen gewechselt wird, in das eine junge Darstellerin ein Kind nach dem anderen hineinzieht, kollabieren im Zuschauerraum mehrere Menschen. Andere verlassen fluchtartig den Saal.
 
Muss das sein? Diese typische Milo-Rau-Provokation, mit dem ihm die Empörung zufliegt? Kann es einen größeren kalkulierten Eklat geben als beim Konzept: die Kindsmörderin Medea, von Kindern gespielt? Milo Rau sorgt gern für große Aufmerksamkeit. Allerdings ist er klug genug, seine Konzepte fundiert zu begründen. Tatsächlich hat man die Brutalität des Kindsmords wohl noch nie so deutlich begriffen wie an diesem Abend. Und was es bedeutet, die eigenen Kinder gewaltsam überwältigen zu müssen, die Todesangst in ihren Augen zu sehen.

Die Fassade des Maxim Gorki Theaters ist im Abendlicht angeleuchtet (Quelle: dpa/Soeren Stache).
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Blutige Provokation

Verknüpft ist der antike Medea-Mythos hier mit einem realen belgischen Kriminalfall, der Medea noch toppt. Amandine Moreau wird die Frau hier genannt, die 2007 allen ihren fünf Kindern, vom Kleinkind bis zum Teenager, die Kehlen durchschnitten hat.
 
Doch die Morde geschehen erst am Ende dieses effektgetriebenen Abends. Der Beginn ist überraschenderweise ungemein heiter. Der Kindercoach Peter tritt in der ersten Szene auf die Bühne und begrüßt das Publikum zum Nachgespräch von "Medeas Kinder": Wie schön, dass noch so viele geblieben sind!
 
Nach und nach kommen die sieben Kinder zwischen acht und 14 Jahren auf die Bühne, das Haar noch nass vom Duschen nach der Show. "Warum wolltet ihr bei dem Stück mitmachen?" werden sie von Peter befragt. "Habt ihr schon mal Theater gespielt? Warum meint ihr, ermordet Medea ihre Kinder? Warum hat Amandine Moreau ihre fünf Kinder umgebracht?" Aus Rache, sagt eine der jungen Schauspieler:innen. Aus Einsamkeit, sagt eine andere. Sie könne verstehen, wie Amandine Moreau immer mehr in ihre eigene Welt abgeglitten ist, erklärt eine dritte, als ihr Mann häufig nach Marokko reiste und sie allein zurückgelassen hat.

Konzert von Benjamin Clementine in Berlin (Quelle: IMAGO/Carsten Thesing).
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Die Kinder: das Ensemble des Jahres

Dann betteln die Kinder, nochmal einzelne Szenen vorspielen zu dürfen – und so entsteht nach und nach das komplette Stück fürs Publikum. Hinter dem Vorhang tut sich eine karge Strandlandschaft auf, nur ein kleines, verlassenes Haus am Rand (das spätere Mordhaus). Darüber die große Leinwand. Einige Szenen erscheinen dort voraufgezeichnet mit erwachsenen Spielern und werden von den Kindern nachgespielt.
 
Die Kinder machen das derart fantastisch, dass man sie sofort zum Ensemble des Jahres küren möchte. Doch das angebliche Anliegen von Milo Rau, den Opfern eine Stimme zu geben, die Kinder, die in antiken Tragödien nie zu Wort kommen, sprechen zu lassen, wird nicht eingelöst. Die Kinder stehen zwar auf der Bühne – die meiste Zeit spielen sie jedoch Erwachsene, die bewusst völlig überhöhte Dinge sagen. Die Kleinsten halten ein fundiertes Referat über Euripides und zitieren Beckett. Oder sagen Kluges über die Liebe: "Das Leben ist absurd und nur die Liebe gibt uns ein Zuhause. Und deshalb sind wir dem Leiden nie so schutzlos ausgeliefert, als wenn wir lieben." Nicht gerade der Satz eines achtjährigen Mädchens.

Die Kinder spielen Erwachsene

Als Kinder kommen die Kinder seltsamerweise kaum vor. Sie stehen als Funktion auf der Bühne: den Erwachsenen etwas beizubringen. Und der Lehrstoff ist, bei Licht betrachtet, eine eher magere Interpretation des Medea-Stoffs: Die Frau als verlassene Geliebte, der es schlicht an Liebe mangelt. So intelligent und perfekt der Abend konzeptioniert ist, so kalkuliert und unterkühlt wirkt er.
 
Das FIND Festival, das Festival für Neue Internationale Dramatik, zeigt schon seit 25 Jahren neue, politische Theaterstücke aus aller Welt – und ist damit einzigartig in Berlin. In diesem Jahr sind (bis zum 13. April) Künstler:innen aus Frankreich, Belgien, Spanien, den USA und zum ersten Mal auch aus Kirgisistan zu erleben. Und: aus Irland.

FIND 2025 | Safe House © Ste Murray

FIND 2025 | Safe House

"Safe House": eine düstere Pop-Oper

Der zweite Teil des Eröffnungsabends kommt vom berühmten irischen Dramatiker und Drehbuchautor Enda Walsh. "Safe House" ist thematisch ebenfalls düster – die Produktion kommt zwar ohne Morde aus, nicht aber ohne Kunstblut. Die starke junge Schauspielerin und Sängerin Kate Gilmore spielt Grace, eine junge irische Obdachlose. Sie schläft in einer abgeschalteten Kühltruhe, trinkt Wein aus dem Tetra-Pack und führt Selbstgespräche mit ihrem Stoff-Hasen.
 
Oft wird eine solche Geschichte (vor allem im englischsprachigen Theater) in einem warmherzigen, sozialrealistischen Well-Made-Play erzählt. Doch Enda Walsh und die Komponistin Anna Mullarkey stellen sie als dunkel-kitschige Pop-Oper auf die Bühne. Kate Gilmore spricht kein einziges Wort, sondern singt ausschließlich von ihren Träumen, von der Liebe, von der schwarzen Welt. In ihrer Fantasie ist sie eine Prinzessin. Nur aus dem Off hören wir Erinnerungsfetzen aus ihrer traumatischen Vergangenheit. Nach verstörenden Sounds, die eine Vergewaltigung andeuten, liegt Grace blutend am Boden.
 
Eine mitunter etwas zu verkitschte Inszenierung, deren Musik auf Dauer zu einer eintönigen Sound-Collage wird. Doch es bleibt ein schöner, ungewöhnlicher Einfall, die Fantasie, die Kunst für Grace zum Element der Hoffnung zu machen, aus ihrer trostlosen Biografie auszubrechen.
 
Auf ihre jeweils eigene Weise wirken beide Produktionen, "Medeas Kinder" und "Safe House", letztlich dann aber doch: zu künstlich überhöht.

Sendung: rbb24 Inforadio, 05.04.2025, 09:50 Uhr