Brandenburg Premiere am Hans Otto Theater Potsdam: In Großmeers Vagina
Kim de l’Horizons preisgekröntes "Blutbuch" kommt in Potsdam als bildgewaltiges Gruselmärchen auf die Bühne – mit einer gigantischen, nackten Großmutter als monsterhaftes Riesengebirge. Von Barbara Behrendt
Beim Betreten des Theatersaals im Potsdamer Hans Otto Theater ein kleiner Schock: Der Blick führt direkt hinein in Großmutters Vagina, umgeben von feuerrotem Schamhaar. Die überdimensionierte "Großmeer" (Berndeutsch für Großmutter) aus Pappmaché liegt splitternackt auf der Bühne, den Kopf aufgestützt, die Beine halb geöffnet. Ihr Busen, ihr Bauch hängt auf den Bühnenboden, ihr signalrotes Kopfhaar ist wie auf Lockenwickler gerollt. Wie ein Hausdrache thront sie hier, ein Riese Goliath in seiner Höhle. Aus den Lautsprechern dröhnt ihr Grollen und Knurren.
Kraxeln auf der Großmutter – ein Riesengebirge
Eine reichlich plakative Setzung der Bühnenbildnerin Barbara Lenartz, doch sie passt. Auch im geschriebenen "Blutbuch" von Kim de l’Horizon, das hier für die Bühne adaptiert wurde, bleibt die Großmeer eine bedrohliche Figur mit monströser Körperlichkeit. Auch im Roman arbeitet sich das Erzähler-Ich Kim mit aller Zärtlichkeit und Hass-Liebe an ihr ab – so wie sich die beiden erwachsenen Kims der Inszenierung (Charlott Lehmann und Paul Sies) und das Kinder-Ich (Nadine Nollau) an ihr abarbeiten: Wie auf einem Gebirge kraxeln sie auf der omnipräsenten Großmeer herum. Sie kriechen wie Maden durch die schwarzen, leeren Augenhöhlen. Geht es um Kims Sex-Eskapaden, krabbeln sie ihr in die Vagina und filmen von innen. Wenn Kim schreibt, schreiben sich die Worte als Projektion auf Großmeers Haut. Und wenn Kim unter der Blutbuche steht, rollt sich Großmeers meterlanges Haar aus, als seien es die blättrigen Äste einer Trauerweide. Das hat großen Schauwert.
Szene aus "Blutbuch" am Hans-Otto-Theater in Potsdam.
Ein Steinbruch aus Themen und Formen
2022 hat Kim de l’Horizon mit dem "Blutbuch" den Deutschen und den Schweizer Buchpreis gewonnen, seitdem prasseln die Adaptionen auf die Theaterbühnen. So beliebt der Stoff über Identität und Familientraumata ist – leicht umsetzbar ist er nicht. Schließlich ist das "Blutbuch" eine Mischung aus poetischem Essay, Roman, Autobiografie, aus Originaldokumenten und Briefen, ohne geschlossene Handlung. Doch gerade in diesem Steinbruch aus sexueller Identitätsfindung, bösem Märchen, Trauma-Bewältigung, Familienaufstellung scheint der Reiz dieses Stoffes für die Bühne zu liegen. Jedes Regie-Team findet andere Erzählansätze, Besetzungen, Bilder, Geschichten darin. Mal wird der Roman als Solo auf die Bühne gebracht, mal als Zwölf-Personen-Stück.
Der Regisseur Kieran Joel entscheidet sich für fünf Schauspieler:innen: zwei für Kims heutiges Ich, eine fürs Kinder-Ich, Janine Kreß spielt eine wunderbar furiose "Meer" (das berndeutsche Wort für Mutter) und Jan Hallmann gibt den "Peer", den Schweizer Vater, und einige historische Figuren.
Keine wahre Geschichte ist linear
Die Inszenierung bemüht sich, alle großen Erzählstränge abzubilden und in gewissem Maß zu sortieren. Die lineare Erzählstruktur verweigert der Text allerdings. Das autofiktionale Ich ringt mit dem Aufschreiben der Erinnerungen, der Gedanken und Gefühle. Es gibt, heißt es darin, Stoffe, aus denen kann man keine wohltemperierte Familiengeschichte machen. Mehr noch: Keine wahre Geschichte lasse sich in Linearität pressen. Die Inszenierung legt diese Suchbewegung im Schreibprozess offen.
Da ist Kims Problematik mit den Zuschreibungen von männlich und weiblich. Kim versteht sich als beides oder keines und sucht eine Sprache, die nicht binär ist, und eine Identität, die sich nicht über ein Geschlecht definiert. Kim probiert die Körper, die ihm vorgelebt werden: den Sportsitz des Vaters mit den breiten Beinen, den Feierabendgang des Vaters, den Ausgehkörper der Mutter mit angewinkeltem Fuß. Aber nichts passt. Berührend die Szene, als Charlott Lehmann und Paul Sies der Großmeer überglücklich die Mädchenkleider vorführen, die sie im Schrank finden. Die Großmeer preist mit verzerrter Monsterstimme die Schönheit des Kindes, bis sie abrupt sagt: „Zieh das aus. Das sind Mädchenkleider, du bist doch kein Mädchen.“ So entdeckt Kim die Scham. Und den Hass auf die Großmutter.
Ein Ensemble mit Esprit
Auch das Problem, sich selbst zu spüren, die innere Leere mit Sex auszufüllen, ist Thema. Wie auch die Stammbaum-Forschung der "Meer", die sämtliche Frauengeschichten mütterlicherseits, vom Mittelalter bis ins Heute, detailliert aufgeschrieben hat und ihnen so eine Stimme gibt: all die geborenen oder verlorenen Kinder, der Missbrauch, die Unterdrückung, aber auch das Sich-Selbstbewusst-Durchschlagen in einer von Männern regierten Welt. Erzählt wird all das, auch auf der Bühne, in einer schönen Mischung aus privat und politisch, immer die eigene Blase reflektierend, aus der heraus das Kim-Ich schreibt. Durch die kreisförmige Wiederholung der Themen bleibt die Inszenierung gut durchschaubar, beinahe zu brav und überdeutlich die Themen auffächernd. Dabei aber bildgewaltig und getragen von einem starken Ensemble mit Esprit.
Nur die letzten Sätze verschluckt der Abend leider ein wenig. Da erklärt Kim ihr Schreiben. Normalerweise, heißt es da, emanzipieren sich Kinder von ihren Eltern, töten sie, um frei zu sein. "Ich töte meine Eltern nicht. Ich bringe meine Mütter zur Welt." Genau das ist in dieser unorthodoxen Familiengeschichte gehaltvoll und unterhaltsam zu erleben.
Sendung: rbb24 Inforadio, 18.01.2025, 10 Uhr