Thüringen Angst im Dunkeln in Erfurt: Reine Gefühlssache oder Realität?
Jüngst äußerte CDU-Bundeschef Friedrich Merz im Interview mit Caren Miosga in der ARD eine beunruhigende Einschätzung: "Wahrscheinlich 90 Prozent der Frauen haben heute Angst, nachts allein durch Innenstädte zu gehen oder mit der U- und S-Bahn zu fahren." Auf die Frage nach möglichen Gegenmaßnahmen forderte er mehr Polizeipräsenz und ein härteres Vorgehen, um die seiner Meinung nach gestiegene Ausländerkriminalität einzudämmen. Wie sicher fühlen sich Frauen in Erfurt?
Eine Straßenumfrage von MDR THÜRINGEN auf dem Anger lieferte ein gemischtes Bild: Von sechs befragten Frauen gaben lediglich zwei an, sich auch im Dunkeln sicher in der Stadt zu bewegen. Die restlichen vier äußerten ein mulmiges Gefühl, sobald es dämmert. Zwei 16-jährige Mädchen erklärten, dass sie nach Einbruch der Dunkelheit gar nicht mehr vor die Tür gehen.
Von sechs Frauen teilte eine Frau Merz Einschätzung, dass Menschen mit Migrationshintergrund eine Ursache für die Unsicherheit seien. Um diese subjektiven Eindrücke besser einzuordnen, befragte MDR THÜRINGEN einen Vertreter der Stadt, eine Sozialpädagogin des Frauenzentrums Brennnessel, die Polizei und eine Helferin des Pilotprojekt Nachteule. Dabei stellte sich die Frage: Wie sicher ist Erfurt für Frauen im Dunkeln?
Wenn es dunkel ist, geh ich definitiv nicht raus. Es ist mir einfach zu unsicher. Cecilia Schrimpf |
Der Mythos vom fremden Mann in der dunklen Gasse
Florentine Schmidt, Sozialpädagogin im Frauenzentrum Brennnessel, nennt die Vorstellung vom "fremden Mann in der dunklen Gasse" einen "Mythos". Sie sagt: "Die meisten Übergriffe passieren im häuslichen Umfeld - in der Familie, im Freundeskreis oder am Arbeitsplatz." Etwa zwei Drittel aller Vergewaltigungen würden von Personen begangen, die den Opfern bekannt sind. Schmidt plädiert für mehr Aufklärung, damit Frauen realistisch einschätzen können, wo echte Gefahren liegen.
Und sie rät Männern, im Dunkeln achtsam zu sein und Rücksicht auf das Sicherheitsgefühl von Frauen zu nehmen. Anstatt hinter einer Frau herzuschreiten, selbst wenn man zufällig in die gleiche Richtung unterwegs ist, sollten Männer die Straßenseite wechseln oder gegebenenfalls überholen. Solche kleinen Gesten könnten dazu beitragen, dass sich Frauen im Dunkeln sicherer fühlen.
Nein, bei mir ist das kein Problem. Ich fühle mich sicher. Katarina Tsepok-Ruzhynska |
Schmidt betont auch, wie wichtig es ist, im Freundeskreis einzugreifen, wenn jemand sich durch respektloses Verhalten wie Catcalling oder abfällige Bemerkungen hervortut. "Gerade im Dunkeln können solche Situationen als besonders bedrohlich empfunden werden."
Ich habe nicht vor Religion oder Herkunft Angst, sondern vor Männern. Leonie Sauer |
Zum Aufklappen: Was ist Catcalling?
Catcalling ist ein Begriff aus dem Englischen, der unangemessene, oft aufdringliche Kommentare, Pfiffe, Zurufe oder andere Geräusche beschreibt, die meist von Männern an Frauen im öffentlichen Raum gerichtet werden. Dieser Begriff wird besonders häufig von der Generation Z verwendet. Auf Instagram hat eine Gruppe Aktivistinnen die Seite "Catcalls of Erfurt" gegründet. Ihr Ziel ist es, auf diese unangenehmen Situationen aufmerksam zu machen, die viele Frauen in der Stadt erleben.
Betroffene Frauen können dem Profil Nachrichten schicken und ihre Erlebnisse teilen. Um diesen Erfahrungen eine sichtbare Stimme zu geben, schreibt die Gruppe das Gesagte mit Kreide an den Ort des Geschehens. Seit Juni sind so immer wieder Botschaften von erlebter Belästigung in Kreideschrift zu finden - vor allem auf dem Boden vor dem Erfurter Bahnhof und am Anger.
Stadt betrachtet Sicherheit von Frauen nicht gesondert
Die Erfurter Stadtverwaltung schreibt zu dem Thema: "Die Stadt Erfurt macht bei der Sicherheit keine Unterschiede zwischen Frauen, Männern oder anderen Bevölkerungsgruppen." Kai Weiße, Referent des Erfurter Dezernats für Sicherheit, Umwelt und Sport, betont, dass Erfurt als eine insgesamt sichere Stadt einzuschätzen sei.
Vor allem die bekannten Kriminalitätsschwerpunkte wie der Hauptbahnhof und der Anger habe die Stadt im Blick. Menschen, die sich dort unwohl fühlen, könnten sich an die Polizei wenden, ans Ordnungsamt, die City-Streife oder das soziale Pilotprojekt der Erfurter Nachteulen "Erfurt-Guides"
Die "Nachteulen" ziehen in Dreier-Teams, leicht erkennbar an ihren blauen Warnwesten und leuchtenden Rucksäcken, von Mai bis Oktober durch Parks und über belebte Plätze. Die Erfurterin Mia Tausend sagt, die Nachteulen böten niedrigschwellige Unterstützung in Notsituationen wie Belästigungen und seien eine erste Anlaufstelle für emotionale Hilfe.
"Nachteulen" unterwegs in Erfurt.
Tausend überzeugte das Konzept von Anfang an, seit kurzem ist sie selbst bei den abendlichen Patrouillen dabei. Besonders für Frauen, die sich nachts unsicher fühlten, könnten die Nachteulen eine wertvolle Stütze sein. Mit ihrer Präsenz vermittelten sie das Gefühl, dass jemand zuhört und im Ernstfall zur Stelle ist.
"Gerade, wenn eine Frau ansprechbar ist, vielleicht sogar im gleichen Alter, fällt es vielen leichter, sich zu öffnen. Deshalb laufe in jedem der Awarenessteams immer mindestens eine weibliche Person mit.
In der Kurzumfrage von MDR THÜRINGEN berichtete eine Befragte, dass sie sich am Anger dank der starken Polizeipräsenz besonders sicher fühle. Sie erzählte, dass sie auf dem Heimweg dieses Mal nicht wie gewohnt ihren Freund anrufen musste, um sich sicherer zu fühlen. Doch sobald sie in eine dunkle Gasse abbiege und es unheimlich werde, greife sie in der Regel doch zum Handy.
Anja Zachow von der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen.
Anja Zachow von der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen bestätigt, dass dunkle und schlecht beleuchtete Orte für viele Frauen deutlich beängstigender sind als belebte Plätze. Ihrer Meinung nach liegt das Problem weniger in der Innenstadt, eher in den schlecht beleuchteten Gassen und Straßen drum herum. Besonders Unterführungen müssten besser ausgeleuchtet werden.
Kai Weiße aus dem Erfurter Rathaus sagt, dass die Stadt bereits Maßnahmen ergriffen habe, um insbesondere die Bahnunterführungen sicherer zu gestalten. Neu angelegte Wege seien nun auch seitlich beleuchtet, um dunkle Bereiche besser auszuleuchten.
"Natürlich gibt es immer noch Orte, die verbessert werden könnten", räumt Weiße ein. Bürgerinnen und Bürger hätten jedoch die Möglichkeit, solche "Angstorte" bei der Geschäftsstelle des Kriminalpräventiven Rates zu melden, damit diese überprüft werden können.
Mehrere gelungene Beispiele in Erfurt
Ein gelungenes Beispiel für mehr Sicherheit in Erfurt ist für Anja Zachow das neue "Promenadendeck", die Fußgänger- und Radfahrerbrücke über den Gera-Flutgraben und die Stauffenbergallee nahe des Hauptbahnhofes. Zachow lobt nicht nur die gute Beleuchtung, sondern auch die Sitzmöglichkeiten, die zu einem angenehmeren Umfeld beitragen würden.
Nach dem Anschlag von Solingen Ende August wurde in Talkshows verstärkt über Migration diskutiert, wobei immer wieder das potenzielle Gefahrenrisiko durch Migranten zur Sprache kam. Auch in einer Umfrage am Erfurter Anger äußerte eine Befragte, dass sie sich aufgrund der zunehmenden Migration unsicherer fühle.
Laut der Polizeistatistik wurden im Jahr 2023 in Erfurt etwa 25.000 Straftaten erfasst, darunter 132 Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Von den 41 ermittelten Tatverdächtigen bei sexuellen Übergriffen und sexueller Nötigung hatten 13 eine nichtdeutsche Herkunft, was etwa 30 Prozent entspricht. Bei Fällen von sexueller Belästigung lag der Anteil bei 37 Prozent, bei Exhibitionismus und Erregung öffentlichen Ärgernisses bei 20 Prozent.
Was kann Frauen helfen, sich sicherer zu fühlen?
Obwohl die gefühlte Bedrohung oft größer ist als die reale Gefahr, ist es wichtig, dass Frauen auf ihr Bauchgefühl hören und Maßnahmen ergreifen, die ihr Sicherheitsgefühl stärken, sagen sowohl Sozialpädagogin Florentine Schmidt als auch die Nachteulen:
- Begleitung suchen: Freunde oder Familienmitglieder anrufen, um sich sicherer zu fühlen.
- Auf das eigene Gefühl hören: Sich der eigenen Unsicherheiten bewusst werden und sie ernst nehmen.
- Selbstverteidigungskurse besuchen: Diese stärken das Selbstbewusstsein und geben das Wissen, im Ernstfall handeln zu können.
- Heimwegtelefon nutzen.
MDR (jn)