Ein Rettungseinsatz im Mittelmeer (Aufnahme vom 3. August 2023)
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Europas Flüchtlingspolitik Kampf gegen Schleuser trifft auch Flüchtlinge

Stand: 21.09.2023 12:17 Uhr

Für die EU ist in der Migrationsfrage der Kampf gegen Schleuserkriminalität entscheidend. Doch was macht jemanden zum Schleuser? Monitor-Recherchen zeigen, dass offenbar oft Flüchtlinge im Gefängnis landen, weil sie anderen helfen.

Von Lara Straatmann, Achim Pollmeier und Shafagh Laghai, WDR

Auf Lampedusa sind erneut Hunderte Flüchtlinge angekommen. Die Bilder des überfüllten Erstaufnahmelagers der kleinen Mittelmeerinsel gehen seit Tagen um die Welt.

Für EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist klar, wer maßgeblich verantwortlich für die Lage ist - die Schleuser: "Wir müssen unsere Anstrengungen im Kampf gegen die Schlepper erhöhen. Wir müssen hart gegen ihr brutales Geschäft durchgreifen", sagte von der Leyen während ihres Besuchs auf Lampedusa vergangene Woche.

Ähnlich klang es bereits im Mai dieses Jahres, als bei der größten und tödlichsten Flüchtlingskatastrophe der vergangenen Jahre ein Fischerboot vor der griechischen Küste kenterte. Mehr als 500 Menschen ertranken, darunter viele Frauen und Kinder. Überlebende machten damals die griechische Küstenwache für das Kentern des Bootes verantwortlich.

Griechische Behörden hatten allerdings andere im Visier: Nur wenige Stunden nach der Katastrophe wurden neun überlebende Ägypter als mutmaßliche Schlepper verhaftet. Überlebende hatten berichtet, die Ägypter hätten Essen und Trinken verteilt, das Boot teils gesteuert oder sich um den Motor gekümmert. Für die griechischen Behörden offenbar hinreichende Beweise dafür, dass sie Schlepper seien.

Was macht jemanden zum Schlepper?

Laut einem Übereinkommen der Vereinten Nationen gilt als Schlepper, wer "vorsätzlich und zur unmittelbaren oder mittelbaren Erlangung eines finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteils" handelt.

Nach Recherchen des ARD-Politikmagazins Monitor und einer internationalen Recherchekooperation mit "Lighthouse Reports" und anderen Medien waren die Ägypter allerdings selbst Flüchtende und hatten offenbar keine finanziellen Vorteile. Die Familie von Ahmed A., einem der angeklagten Ägypter, berichtet Monitor, dass sie 4.500 Euro für die Flucht zahlen mussten. Die Recherchen zeigen, dass andere Überlebende ähnliche Beträge zahlten.

Das Geld hätten sie an libysche Schleuser bezahlt, erzählt die Familie. Deren Forderungen kamen über einen sogenannten Vermittler. Die Gespräche, die die Geldforderungen belegen, hat die Familie aufgezeichnet, die Aufzeichnungen liegen Monitor vor. Die Recherchekooperation hatte zudem aufgedeckt, dass dieser Vermittler offenbar Verbindungen zum libyschen Milizenchef General Khalifa Haftar hat.

Der Vater von Ahmed A. betont, dass sein Sohn auf dem Boot nur geholfen und Essen verteilt habe: "Wir sind vollkommen niedergeschlagen. Wir schlafen nicht. Er hat das nicht verdient, was mit ihm gemacht wird."

Hilfe kann strafbar sein

Jetzt droht Ahmed A. eine jahrelange Haftstrafe. Denn nach griechischem Recht spielt es keine Rolle, dass Ahmed A. selbst Geld an Schleuser bezahlt hat - und keinen finanziellen Vorteil hatte. Dies wiederum entspricht einer EU-Richtlinie, wonach als Schlepper bereits Menschen gelten, die Migranten "vorsätzlich dabei helfen, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einzureisen".

Welche Konsequenzen das haben kann, zeigen Fälle wie die des Iraners Homayoun S., der in Griechenland zu 18 Jahren Haft verurteilt wurde, nachdem er offenbar von Schleppern gezwungen worden war, sich ans Steuer eines Autos zu setzen, um sich und andere Flüchtlinge in Sicherheit zu bringen.

Der 60-jährige Iraner war selbst auf der Flucht vor dem iranischen Regime, wie seine Tochter Mahtab Monitor gegenüber berichtet: "Mein Vater hat gesagt, dass er das Auto nicht fahren möchte, und dann sagte der Schlepper, dann bleibt ihr alle hier und sterbt."

Im Gefängnis wegen kleinerer Hilfeleistungen?

Flüchtlinge, die als Schleuser zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt werden, weil sie anderen helfen: Laut Aussage des griechischen Anwalts Alexandros Georgoulis sitzen etliche Flüchtlinge in griechischen Gefängnissen, die zum Teil wegen kleinerer Hilfeleistungen für andere Flüchtlinge verurteilt wurden. "Es ist die zweitgrößte Kategorie von Gefangenen in griechischen Gefängnissen", so Georgoulis.

Wie gering diese Hilfeleistungen sein können, zeigt der Fall eines marokkanischen Flüchtlings, der in Griechenland zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, weil er ein defektes Schlauchboot mit anderen Geflüchteten über den türkisch-griechischen Grenzfluss Evros gebracht hatte. Ein Berufungsgericht verringerte seine Haftstrafe später. Mittlerweile ist er aus der Haft entlassen und hat politisches Asyl in Österreich erhalten.

Verstoß gegen das Völkerrecht?

Für Völkerrechtlerin Dana Schmalz ist das Verhalten der griechischen Justiz und die EU-Richtlinie nicht mit internationalem Recht zu vereinbaren. Geflüchtete dürften nicht für ihre eigene Flucht bestraft werden:

Diejenigen, die auf der Flucht anderen helfen, sind zuvorderst selbst weiter Schutzsuchende, also Flüchtende. Das heißt, dieser Schutz, den ihnen das internationale Recht gewährt, verschwindet nicht dadurch, dass sie anderen helfen. Wenn es da zu so einer Kriminalisierung kommt, ist das ein Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention.

Der grüne EU-Abgeordnete Erik Marquardt kritisiert die EU-Kommission scharf und wirft ihr vor, billigend in Kauf zu nehmen, dass Unschuldige hinter Gittern landen. Er glaubt, dass dadurch Flüchtlinge abgehalten werden sollen, nach Europa zu kommen: "Ich glaube, dass man auch schauen muss, ob es nicht sogar Absicht ist, ob nicht eigentlich das Ziel ist, dass die Menschen so bestraft werden."

Auf Monitor-Nachfrage weist die EU-Kommission die Kritik zurück und verweist auf die Möglichkeit, aus humanitären Gründen von einer Strafverfolgung abzusehen. Die Verantwortung für die Umsetzung der Richtlinie sieht sie allein bei den einzelnen Mitgliedstaaten.

Mehr zu diesem und anderen Themen sehen Sie heute um 21:45 Uhr bei Monitor.

Shafagh Laghai, WDR, tagesschau, 21.09.2023 13:05 Uhr