Gefangener Gershkovich Wen will Russland im Tausch?
Der in Russland in Haft sitzende US-Reporter Gershkovich könnte Faustpfand für den Austausch russischer Gefangener sein. Das Auswärtige Amt warnt auch Deutsche vor Festnahmen. Wen könnte Russland zurückholen wollen?
Es ist das erste Mal seit dem Ende des Kalten Krieges, dass ein US-Journalist wegen Spionage in Russland inhaftiert wurde. Evan Gershkovich drohen 20 Jahre Haft. In der weit überwiegenden Zahl der Fälle werden Angeklagte in Russland auch verurteilt.
Der Geheimdienst FSB behauptet, den 31-Jährigen in Jekaterinburg "auf frischer Tat ertappt" zu haben, wie er als Staatsgeheimnis eingestufte Informationen über ein Unternehmen des militärisch-industriellen Komplexes gesammelt habe. Seine Zeitung, das "Wall Street Journal", und die US-Regierung wiesen dies zurück, sie fordern seine Freilassung.
Es besteht die Befürchtung, dass Gershkovich eine "Geisel" sei, die bei der US-Regierung für den Austausch russischer Gefangener eingesetzt werden soll. Schon bei der US-Basketballerin Brittney Griner war davon ausgegangen worden. Sie wurde zu neun Jahren Straflager verurteilt wegen einer geringen Menge Haschischöl, das sie im Februar 2022 bei der Einreise auf einem der Moskauer Flughäfen in ihrem Gepäck hatte. Sie war bereits in ein Straflager in Mordwinien verlegt worden, bevor sie im Dezember gegen den verurteilten Waffenhändler Viktor Bout ausgetauscht wurde.
Risiko auch für Deutsche in Russland
Während der Verhandlungen war von russischer Seite über einen Kanal, den der FSB nach Washington nutzt, der Verurteilte des "Tiergartenmordes" ins Spiel gebracht worden, der in Deutschland seine lebenslange Haftstrafe absitzt. Fachleute wie der russische Geheimdienstexperte Andrei Soldatow hatten dies als Signal an russische Agenten im Westen erklärt, dass man sie nicht im Stich lasse. Mitarbeiter der US-Regierung sagten, dieser Vorschlag sei nie ernst gemeint gewesen.
Es könnte auch Ziel gewesen sein, Spannungen zwischen den USA und Deutschland zu schüren. In juristischen und politischen Kreisen in Deutschland gab es keine Anzeichen für eine Bereitschaft, den verurteilten Mörder nicht mal ein Jahr nach der Verurteilung mit Russland auszutauschen, wo ihn sicher die Freiheit erwartet hätte. Bout wurde bei seiner Rückkehr nach Russland gefeiert.
Schon im August 2022 warnten Politiker in Berlin vor dem Risiko auch für Deutsche, in Russland festgenommen und als Faustpfand eingesetzt zu werden. Das Auswärtige Amt rät von Reisen dorthin ab: "In der Russischen Föderation besteht auch für deutsche Staatsangehörige und deutsch-russische Doppelstaater die Gefahr willkürlicher Festnahmen", heißt es auf der Website des Ministeriums. Hingewiesen wird unter anderem auf neue Zensurgesetze, die seit dem Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 in Kraft gesetzt wurden.
Was wird aus Gershkovich?
Die russische Führung stellte klar, dass sie bei Gershkovich keine Eile sieht. Ein Gericht solle über sein Schicksal entscheiden, sagte Außenminister Sergej Lawrow. Sein Stellvertreter Sergej Rjabkow ging noch einen Schritt weiter: Es sei zu früh, über einen Austausch zu diskutieren. Andere Personen seien erst ausgetauscht worden, nachdem sie bereits eine Strafe verbüßt hätten.
Womöglich will die russische Regierung den Preis für einen günstigen Austausch hochtreiben. Zwar weigerte sich das US-Justizministerium, dem "Wall Street Journal" zu beantworten, wie viele russische Staatsbürger derzeit in US-Gewahrsam sind. Aber einige Namen sind doch bekannt.
Kreditkartenbetrug
Bereits im April 2017 wurde Roman Selesnew in Seattle wegen Hacking zu einer 27-jährigen Haftstrafe verurteilt. Die außerordentlich lange Haftstrafe erhielt er, weil er nach Aussage der Staatsanwaltschaft "einer der produktivsten Kreditkartendiebe der Geschichte" gewesen sei.
Er soll Millionen Kreditkartennummern gestohlen und verkauft haben. Der Schaden betrug mehr als 170 Millionen US-Dollar, könnte aber tatsächlich bei mehreren Milliarden US-Dollar gelegen haben, schrieb die "New York Times" damals. Selesnews Vater ist Duma-Abgeordneter für die nationalistische Partei LDPR.
Kriminelle Erlöse gewaschen
Anfang August 2022 wurde Alexander Vinnik aus Griechenland an die USA ausgeliefert. Er soll dem US-Justizministeriums zufolge für den Betrieb der Kryptowährungsbörse BTC-e zur Verantwortung gezogen werden. Über die Börse sollen mehr als vier Milliarden US-Dollar an kriminellen Erlösen gewaschen worden sein.
Vinnik war nach fünf Jahren Rechtsstreit aus Griechenland überstellt worden. Sein Anwalt Frédéric Bélot setzt sich laut "Wall Street Journal" für einen Austausch seines Mandanten ein.
Hacker und Betrüger
Mitte Februar wurde der 42-jährige Geschäftsmann Wladislaw Kljuschin mit Verbindungen zum Kreml von einem Gericht in Boston verurteilt. Er stahl Daten aus Computernnetzen und setzte diese gewinnbringend ein. Der Insiderhandel brachte 90 Millionen Dollar ein.
Kljuschin wurde 2021 in der Schweiz verhaftet, als er von seinem Privatjet in einen Hubschrauber umsteigen wollte, der ihn ein Skigebiet hätte bringen sollen.
Mit Kljuschin wurden zwei weitere Russen in Abwesenheit angeklagt. Noch zwei weitere Russen wurden ebenfalls in Abwesenheit in einem separaten Verfahren angeklagt. Einer aus der Gruppe soll als Offizier des Militärgeheimdienste GRU an der Einmischung in die US-Präsidentschaftswahlen 2016 beteiligt gewesen sein.
Gericht als Spionageziel
Kurz vor der Festnahme Gershkovichs wurde der 37-jährige Russe Sergej Tscherkassow vor einem Gericht in Washington angeklagt. Der Hauptvorwurf gegen den 37-Jährigen lautet, er habe als Agent einer ausländischen Macht gehandelt, dies mit einer brasilianischen Scheinidentität unter dem Decknamen Victor Muller Ferreira. Aus seinem Lebenslauf ging hervor, dass er 2020 einen Master-Abschluss an der Johns Hopkins University in Baltimore erlangt hatte.
Der niederländische Geheimdienst AIVD enttarnte Tscherkassow im Juni 2022, als er am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ein Praktikum leisten wollte. Er durfte nicht einreisen und musste nach Brasilien fliegen. Dort sitzt er wegen Betrugs in Haft.
Untergrundagenten
Tscherkassow ist nur einer von mehreren mutmaßlichen Agenten, die in den vergangenen Monaten aufflogen und als Legende eine Staatsbürgerschaft in Südamerika genutzt hatten. Im Oktober 2022 enttarnte der norwegische Geheimdienst PST einen Russen mit brasilianischer Staatsbürgerschaft. Unter dem Namen José Assis Giammaria hatte er in Kanada eine akademische Karriere aufgebaut, bevor er an eine Universität im nordnorwegischen Tromsø ging. Er wurde in Haft genommen.
Im Dezember flog ein Ehepaar mit den Namen Maria Myer und Ludwig Gisch in Slowenien auf. Sie gaben vor, 2017 aus Argentinien gekommen zu sein. Bei ihnen wurde viel Bargeld gefunden. Ermittler gehen deshalb davon aus, dass sie für die Geldausgabe an informelle Agenten und Informanten zuständig waren, schrieb der britische "Guardian".
Damit könnten sie Teil eines Netzwerks in Europa gewesen sein. Während ein Gerichtsprozess gegen sie vorbereitet wird, sollen im Hintergrund Verhandlungen für ihren Austausch laufen. Das spurlose Verschwinden eines Paares kürzlich aus Griechenland könnte ein Hinweis dafür sein, dass die russischen Geheimdienste das Auffliegen weiterer Agenten befürchten. Anfang der 2010er-Jahre hatte ein Überläufer dazu beigetragen, als erst in den USA ein Spionagering mit elf Personen und dann in Deutschland ein Ehepaar aufflogen, die am Ende ausgetauscht wurden.
"Zu Unrecht inhaftiert"
Gershkovich ist wiederum nicht der einzige, dessen Freilassung die USA anstreben. Während der Verhandlungen um Griner ging es schon um Paul Whelan. Der ehemalige US-Marine war 2020 zu 16 Jahren Gefängnis wegen Spionage verurteilt worden. In den USA wurde er als "zu Unrecht inhaftiert" eingestuft. Für im Ausland Inhaftierte mit diesem Status gibt es einen Sonderbeauftragten und die Möglichkeit, zusätzliche Ressourcen für ihre Freilassung einzusetzen.
Noch nicht unter diesen Status fällt der Lehrer Marc Fogel, der wie Griner wegen Cannabis-Besitzes verurteilt wurde, das er aus medizinischen Gründen nach Russland gebracht hatte. Das US-Außenministerium fordert seine Freilassung aus humanitären Gründen.
Daneben wurde früher auch die Freilassung russischer Staatsangehöriger erwirkt, die zum Beispiel für die USA oder andere Staaten spioniert hatten. Auch russische Dissidenten kamen frei. Jetzt käme dafür beispielsweise der Oppositionelle Wladimir Kara-Murza in Frage. Er war lange zwischen den USA und Russland gependelt, bevor er vor im April 2022 in Moskau festgenommen wurde. Wegen einer Rede vor dem Repräsentantenhauses im US-Bundesstaat Arizona wurde ein Strafverfahren wegen "Falschaussagen über die russische Armee" gegen ihn eröffnet.