Auflösung von Memorial Kein Platz für die Wahrheit
Es ist eine Farce: Eine Organisation, die sich für Menschenrechte einsetzt und Millionen vom Stalin-System gepeinigter Seelen eine Stimme gibt, wird aufgelöst - weil sie angeblich dem Ansehen Russlands schadet.
Hinter Memorial stehen Millionen gepeinigter Seelen: Willkürlich in Kerker und Lager geworfen, gefoltert, erpresst, gedemütigt, verbannt, verhungert, ermordet, verscharrt. Zahllose Verfolgte einer Diktatur namens Sowjetunion, deren Ende vor 30 Jahren besiegelt wurde. Endlich floss Licht in dunkle riesige und bis dato unzugängliche Staatsarchive, in denen die Schicksale der Verzweifelten auf immer modern sollten - und auch die gebrandmarkten Angehörigen durften nicht hinein. Denn Täter lieben das Schweigen - und überzeugte Geheimdienstler wie Russlands Präsident Wladimir Putin bedauern bis heute, dass es gebrochen werden konnte und kann.
Die Mitarbeiter von Memorial stiegen als erste hinunter in die Archive und entrissen die Geschichte einem von oben verordneten Vergessen. Sie suchten nach Massengräbern oder erkämpften Gesetze zur Rehabilitierung von Opfern politischer Verfolgung. Sie gedenken öffentlich und klären unabhängig auf: in Schulen, Bibliotheken oder Museen. Über Stalinzeit, Archipel Gulag, systematische Entrechtung und deren hartleibige Profiteure. Und auch für Deutschland hat Memorial versöhnlich gewirkt. Es machte mit bei der Aufarbeitung der Schicksale von NS-Zwangsarbeiterinnen und -Zwangsarbeitern.
Menschenrechte für alle - auch in Russland
All das stört seither die offizielle Lesart der russischen Geschichte, in der eine verklärte sowjetische Vergangenheit immer mehr zur Quelle für heutigen Nationalstolz und Patriotismus wurde. Auch hier legt sich Memorial quer. Die Organisation zeigt auch eine Reihe von Misständen im heutigen Russland auf: Sie kümmert sich um politische Gefangene oder besteht auf Menschenrechten in Kriegen und Konflikten, an denen Russland beteiligt war oder ist - etwa in Tschetschenien.
Denn Menschenrechte sind keine Privilegien, die die Mächtigen den Bürgern zugestehen müssen. Es sind verbriefte Rechte, die alle für sich in Anspruch nehmen können und sollen - auch im heutigen Russland. Ein Russland, in dem es der Staatsanwalt wagt, zu unterstellen, die Arbeit von Memorial würde dem Ansehen des Landes schaden - vor dem Obersten Gericht der Russischen Föderation, das unter dem Deckmantel des Rechts die bekannteste Menschenrechtsorganisation des Landes mundtot machen will.
Der Vorgang ist eine Farce. Anklage und Urteil basieren auf dem sogenannten Agentengesetz. Dieses kriminalisiert unabhängige Geister und soll Menschen entmutigen, sich für eine offene Gesellschaft einzusetzen. Eine Gesellschaft, in der Platz ist für die Wahrheit über Millionen gepeinigter Seelen der Stalinzeit, denen Memorial Namen und Würde zurückgegeben hat.