Urteil des Verfassungsgerichts Höchste Zeit, sich beim Wahlrecht zusammenzuraufen
Alle präsentieren sich nach dem Urteil aus Karlsruhe als Gewinner. Aber weder Opposition noch Regierung haben sich mit Ruhm bekleckert. Der Streit über das Wahlrecht wird weitergehen - und das ist gefährlich.
Die Urteilsbegründung in Sachen Wahlrecht läuft noch, da haben sich die ersten schon zu Wort gemeldet. CSU und Linke waren nach Karlsruhe gezogen. Jetzt rühmen sie sich damit, dass das Verfassungsgericht auf ihre Initiative hin zumindest Teile des Ampel-Gesetzes gekippt hat. Doch auch das Regierungslager in Berlin freut sich. Ein kluges Urteil, heißt es von dort. Alle wollen jetzt zu den Gewinnern gehören. Dabei haben alle demokratischen Parteien verloren. Mit der Entscheidung hat das Gericht zwar Rechtsklarheit geschaffen. Aber: Der politische Streit übers Wahlrecht geht weiter - und das ist ein Problem für die parlamentarische Demokratie.
Ein Blick zurück: Seit vielen Jahren zerbrechen sich Politiker und Fachleute den Kopf darüber, wie der Bundestag verkleinert werden kann - denn darum geht es im Kern. Aktuell gibt es 733 Abgeordnete im Bundestag. So viele wie in dieser Wahlperiode waren es noch nie.
Schon die große Koalition hat versucht, den Trend zu immer mehr Abgeordneten umzukehren - gegen den Widerstand der Opposition. Union und SPD setzten damals bei den Überhang- und Ausgleichsmandaten an. Aber eine Trendumkehr blieb aus, der Bundestag hat sich seitdem weiter vergrößert.
Unaufrichtige Kritik von der CSU
Letztes Jahr dann die Reform der Ampel - auch sie gegen die Opposition im Bundestag durchgesetzt. Ein Beschluss, bis heute von schrillen Tönen begleitet.
"Wahlrechtsmanipulation" wirft die CSU der Ampel vor. Dabei hat das Verfassungsgericht der Koalition bescheinigt, dass ihr Gesetz formal einwandfrei zustande gekommen ist und auch inhaltlich hat das Gericht die Regelung für überwiegend verfassungsgemäß erklärt.
Maßlos wirkt da die Kritik der Christsozialen. Zumal die CSU verschweigt, wie sehr sie vom bisherigen Wahlrecht profitiert hat. Bei der letzten Wahl gab es bundesweit 34 Überhangmandate - und fast ein Drittel ging an die CSU.
Kitt für die Demokratie
Aber auch das Regierungslager hat sich nicht mit Ruhm bekleckert. Während des Gesetzgebungsverfahrens schnell noch die Grundmandatsklausel streichen, was zu Lasten von regional stark verankerten Parteien gegangen wäre: Das hat den Eindruck erweckt, die Ampel wolle mit den Mitteln des Wahlrechts der Konkurrenz das Wasser abgraben.
Ein fataler Eindruck. Denn das Wahlrecht ist ein Kitt für unsere Demokratie. Bröckelt das Vertrauen in das Regelwerk, dann dauert es nicht lange, bis die ersten das Ergebnis von Wahlen infrage stellen. Höchste Zeit, dass sich die Demokraten beim Wahlrecht zusammenraufen. Bevor es zu spät ist.
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