Herausforderung für Jobcenter Warum Millionen Menschen nicht arbeiten
Die Erwerbstätigkeit ist auf Rekordniveau, gleichzeitig beziehen 5,7 Millionen Menschen Grundsicherung. Und oft werden Arbeitskräfte dringend gesucht. Wie passt das zusammen - und welche Rolle spielen die Jobcenter?
Die Schwebebahn rattert entlang ihrer Schienen über die Wupper. Keine 20 Meter entfernt liegt das Büro von Thomas Lenz, Chef des Wuppertal Jobcenters. Von der fünften Etage aus hat er einen Überblick über die Stadt - und ihren Arbeitsmarkt. Etwa jeder siebte Mensch in Wuppertal bezieht Leistungen über das Jobcenter. Im Café nebenan werden Mitarbeiter gesucht, auch in der Arztpraxis gegenüber. Wieso können die vielen Menschen aus der Grundsicherung nicht einfach direkt dort anfangen?
Jobcenter als soziale Behörde
80 Prozent der Menschen, die vom Jobcenter betreut werden, hätten keinen abgeschlossenen Schulabschluss oder keine abgeschlossene Berufsausbildung, sagt Lenz. Etwa 60 Prozent hätten teils massive psychische oder andere gesundheitliche Einschränkungen: "Wir haben hier Klienten mit Drogenproblemen, mit hohen Schulden, mit Kriegstraumata. Bevor es um die Vermittlung in Arbeit oder Ausbildung gehen kann, versuchen wir zunächst einmal, diese Probleme zu lösen - und zwar sehr individuell."
Man kümmere sich um die Menschen, die alle anderen bereits abgeschrieben hätten. Die Jobcenter seien heute vor allem soziale Behörden. "Die Jobcenter tragen mit ihrer Arbeit wesentlich zum sozialen Frieden in den Städten und Gemeinden bei. Langzeitarbeitslosigkeit macht krank und grenzt betroffene Menschen aus der Gesellschaft aus", erklärt Lenz. Bisher vermittelten Jobcenter Arbeitslose oft in Helferjobs, die diese dann nicht lange ausübten. Im Rahmen des neu eingeführten Bürgergelds sollen Weiterbildung und der Erwerb eines Berufsabschlusses stärker im Vordergrund stehen.
Lebensunterhalt aus eigener Kraft
Der Arbeitsmarktökonom Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft stimmt dem zu. "Ziel der Sozialpolitik ist es, Menschen zu befähigen, ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten", sagt Schäfer. "Das erreichen sie in der Regel durch Arbeit, daher ist die Integration in den Arbeitsmarkt von entscheidender Bedeutung für Teilhabe und Selbstverantwortung."
Wie erreicht man aber die Menschen in Grundsicherung? Man müsse dabei die Zahlen differenziert betrachten. "Von den 5,7 Millionen Beziehern von Grundsicherung ist nur ein Teil arbeitslos, nämlich etwa 1,7 Millionen", sagt Schäfer. "Die Übrigen sind entweder Kinder oder Jugendliche, die noch zur Schule gehen, oder Personen, die kleine Kinder betreuen und dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, oder Erwerbstätige, die aufstockende Leistungen erhalten."
Für die Reduzierung von Arbeitslosigkeit gebe es kein Patentrezept. Eine gewisse Sucharbeitslosigkeit sei zudem normal. Tatsächlich bleiben nur wenige Menschen in der Grundsicherung, die für den ersten Arbeitsmarkt in Frage kämen. Daraus schlussfolgert Schäfer: "Die Behebung des vorliegenden und vor allem des künftigen Arbeitskräftemangels kann nur erfolgen durch Zuwanderung, eine höhere Erwerbsbeteiligung, eine längere Arbeitszeit und eine höhere Produktivität".
Offene Stellen lassen sich nicht besetzen
Mehr als die Hälfte der Unternehmen in Deutschland kann nicht alle offenen Stellen besetzen, wie aus einer aktuellen Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer hervorgeht. Noch nie hatten so viele Unternehmen Probleme beim Anwerben neuer Mitarbeiter. "In den kommenden Jahren werden die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge das Rentenalter erreichen", sagt Schäfer. "Die Kompensation der entstehenden Lücke durch Zuwanderung ist von zentraler Bedeutung, da es für andere Maßnahmen, die auf langfristige Verhaltensänderungen abzielen, vermutlich schon zu spät ist."
Damit der Arbeitsmarkt weiter robust bleibe und mehr Menschen in den Arbeitsmarkt kommen, fordert der Chef des Wuppertaler Jobcenters, sich den tieferen Ursachen zuzuwenden. "Ohne Schulbildung ist der Weg in den Arbeitsmarkt mehr als schwierig", sagt Lenz. "Müssen wir nicht unser Schulsystem reformieren? Müssen wir nicht auch über gerechte Löhne reden und den Wert der Arbeit in unserer Gesellschaft?" Es sei höchste Zeit, dass sich grundlegend etwas ändere.