Interview

Analyst zum Verhältnis von Politik und Börse "Es fehlt an Tiefe und Fachwissen"

Stand: 12.08.2011 16:15 Uhr

Der Frankfurter Finanzfachmann Joachim Goldberg stellt der Politik ein schlechtes Zeugnis aus: Vor allem die psychologische Seite der Marktteilnehmer würde nicht beachtet. Im Interview mit tagesschau.de erklärt Goldberg, wie die Börsianer mit Gewinnen und Verlusten umgehen und was ein Verbot von Leerverkäufen bewirkt.

tagesschau.de: Bundeskanzlerin Angela Merkel versucht, den Ball flach zu halten. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy bittet um ein Krisentreffen. Der amerikanische Präsident Barack Obama ist mit seinem Versuch gescheitert, per Ansprache die Märkte zu beruhigen. Was raten Sie den Politikern, die nach Wegen aus der Krise suchen?

Joachim Goldberg: Man kann von Politikern nicht erwarten, dass sie im Einzelnen wissen, wie der Euro-Rettungsschirm funktioniert. Aber manchmal merkt man einfach, dass es diesen Menschen erschreckend an Tiefe und an Fachwissen fehlt. Da frage ich mich oft: Wo sind die Berater der Politiker? Da wird schnell mal aus der Hüfte geschossen.

Zur Person
In seinen Analysen führt Joachim Goldberg Ökonomie und Psychologie zusammen. Zusammen mit Rüdiger von Nitzsch schrieb Goldberg 1999 das Buch "Behavioral Finance", das im März auch auf Japanisch erschien. Goldberg, geboren 1956, arbeitete nach seiner Banklehre 25 Jahre lang für die Deutsche Bank.

tagesschau.de:  Das heißt, die Politik beeinflusst die Märkte auch, wenn sie nichts macht?

Goldberg: Die Politik hat das große Problem, dass sie immer auch dem Wähler verpflichtet ist. Die Menschen erwarten natürlich Antworten. Nichts zu entscheiden, dafür hat die Branche schon einen eigenen Begriff geprägt: "Merkeling Around".

Was mich immer wieder bestürzt, ist das fehlende Verständnis dafür, dass die Aktienkurse nicht von irgendwelchen Fundamentaldaten bewegt werden, sondern von uns selbst. Von Angebot und Nachfrage - von nichts anderem. Die Leute verstehen nicht, dass ein Gut genau das wert ist, was dafür bezahlt wird. Die psychologische Seite des Finanzmarktes wird von vielen Politikern überhaupt nicht beachtet. Das Statement von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso zum Beispiel kam zur völligen Unzeit. Der Ruf nach Ordnung und nach mehr Aufsicht kommt immer nur dann, wenn die Aktienmärkte unter Druck geraten. Dann wollen plötzlich alle Ernst machen, dann versprechen alle, dass so was nicht mehr passieren darf.

"Bedrohliche Informationen werden verdrängt"

tagesschau.de: Was geht in jemandem vor, der täglich auf den Milliarden-Gewinn hofft, dann aber meist doch den Milliarden-Verlust verarbeiten muss? Wie groß ist der Faktor "Psychologie"?

Goldberg: Die Menschen nehmen Gewinne und Verluste unterschiedlich wahr. Solang sie Gewinne auf der Uhr haben, ist alles kein Problem. Da muss man sich ja auch nicht rechtfertigen. Verluste, die indes mehr als doppelt so schwer bewertet werden, möchte dagegen niemand gerne festschreiben. Verluste sind aber mit diesem unangenehmen Gefühl des gegenläufigen Marktes verbunden. Und dieses Gefühl will jeder Mensch beseitigen. Er kann dann entweder tatsächlich den Verlust realisieren, oder er beginnt, die zu seiner Entscheidung passenden Informationen zu sammeln. Die bedrohlichen Informationen werden zunächst mal verdrängt.

Und es geht noch einen Schritt weiter: Ein schief liegender Marktteilnehmer nimmt nicht nur Informationen selektiv wahr, er gibt auch Informationen selektiv weiter und zwar meist ungewollt. Das geschieht automatisch unter dem psychischen Druck des Verlustes. Die Medien interessieren sich dann auch sehr für eine Erklärung, warum die Kurse hoch gehen müssten, auch wenn sie gerade fallen. Das wird dann auch geschrieben.

Menschen argumentieren immer zielgerichtet. Wer gerade Aktien gekauft hat, wird immer von einem steigenden DAX sprechen. Wer gerade Aktien verkauft hat, der sieht den DAX der Zukunft im Minus. Über diese Aussage erfahren wir, wer gerade ge- und wer verkauft hat. Das wüssten wir im Übrigen gern auch von der Peoples Bank of China, aber die lassen sich nicht in die Karten gucken. Da kann man dann nur den Wechselkurs als Barometer heran ziehen.

"Merkel hat Glück gehabt"

tagesschau.de: Wodurch unterscheidet sich die Psychologie eines institutionellen Anlegers von der eines privaten?

Goldberg: Wenig. Die "schweren" institutionellen Marktteilnehmer agieren allerdings eingeschränkter. Sie können sich nur dann ohne Verlust bewegen, wenn alle anderen das Gegenteil von dem glauben, was dieser Marktteilnehmer vorhat. Dieser Marktteilnehmer kauft dann, wenn alle anderen glauben, die Kurse bewegen sich abwärts. Er verkauft dann, wenn alle anderen glauben, die Kurse bewegen sich aufwärts.

Eine solche Situation hatten wir zum Beispiel vor zwei Wochen. Da dachte jeder, der amerikanische Schuldenkompromiss sei eine tolle Sache. Der Aktienmarkt ging ja zunächst auch hoch. In diesem Moment konnte ein schwergewichtiger Akteur ganz beruhigt seine Aktien loswerden. Aber die Position dieses Marktteilnehmers, wahrscheinlich sind es auch mehrere gewesen, die war wohl zu groß. Dann sind die Kurse runtergegangen, womöglich aus einem anderen Grund. Daraufhin dachten einige europäische Politiker, sie müssten reagieren.

Insoweit hat Merkel womöglich Glück gehabt, dass sie im Urlaub war und dort geblieben ist. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy dagegen hat seine Minister zurückgerufen und dadurch zugegeben, dass er die Lage vielleicht nicht mehr im Griff hat. Und auf einen solchen Kontrollverlust können die Finanzmärkte dann schneller reagieren als gedacht. Das kommt aber nicht aus heiterem Himmel.

"Es fehlt die Hoffnung"

tagesschau.de:  An der börsianischen Großwetterlage, an den wirtschaftlichen Fakten, hat sich wenig geändert. Trotzdem stürzen die Kurse erst drastisch ab, um sich danach ein wenig zu erholen. Warum?

Goldberg: Die ökonomischen Aussagen haben sich zum Teil geändert, weil der DAX gefallen ist. Die gefallenen Aktienkurse haben manchen Ökonomen bewogen, ein anderes, ein negativeres Bild zu zeichnen. Da kommt etwa ein Händler schnell unter Druck. Der muss sich nämlich von seinem Chef fragen lassen, warum er noch auf Aktien setzt und stößt diese dann folgerichtig ab. Dadurch entsteht dann schnell eine solche Kapitulationsbewegung wie Anfang der Woche. Da wollten alle gleichzeitig durch dieselbe Tür raus. Und: Es fehlt die Hoffnung, dass sich etwas ändert.

Die Erholung jetzt ist auch normal. Das ist wie ein Ball, der fällt, aufprallt und erst mal hoch springt. Die Stimmung zum Beispiel an der Frankfurter Börse ist am Mittwoch schlagartig gestiegen. Das sagt mir: Da haben Akteure gekauft, weil es schön billig aussah. Ich glaube aber, die werden bald wieder als Verkäufer auftreten.

Aktienmarkt
Bei Leerverkäufen oder "short sellings" verkaufen Händler Aktien, die sie nur ausgeliehen haben. Wenn der Kurs des Papiers unter den eigenen Verkaufspreis gefallen ist, kaufen sie die Aktien zurück und verdienen an der Differenz abzüglich einer Leihgebühr.

Ungedeckte Leerverkäufe sind eine verschärfte Form der "short sellings". Anders als bei einem normalen Leerverkauf sind bei dieser englisch "naked short selling" genannten Spekulationsform die verkauften Wertpapiere noch nicht einmal geliehen. Damit kann theoretisch ein Vielfaches der aktuell verfügbaren Papiere verkauft werden, was starke Kursverwerfungen nach sich ziehen kann. Der Short Seller hat bei dieser Form dann in der Regel mehrere Tage Zeit, sich die Papiere, die er bereits verkauft hat, nachträglich zu beschaffen.

tagesschau.de:  Mehrere europäische Länder haben die so genannten Leerverkäufe verboten oder eingeschränkt. Wirkt dieser Schritt beruhigend auf die Händler? Oder fühlen die sich noch mehr herausgefordert, mit anderen risikoreichen Geschäften hohe Gewinne zu erzielen?

Goldberg: Die Ursache für den starken Einbruch des DAX waren ja nicht die Leerverkäufer. Deshalb haben wir uns schon ein wenig gefragt, was das denn jetzt soll. Angeblich wollen wir einen freien Markt. Aber den wollen wir immer nur haben, wenn es hoch geht. Wenn Leerverkäufe verboten werden, dann fehlt dem Markt ein Stück Liquidität. Durch ein Verbot verhindert man aber nicht, dass Aktienbesitzer in Panik geraten. Bewiesen wurde wieder mal nur, wie uneins die EU agiert.

Die Fragen stellte Ute Welty, tagesschau.de