Werkstor des Brennelementeherstellers ANF in Lingen.

Im niedersächsischen Lingen Russischer Einstieg bei Brennelemente-Fabrik?

Stand: 20.11.2024 18:31 Uhr

Viele osteuropäische Atomkraftwerke sind bei der Versorgung mit Brennelementen abhängig von Russland. Ein Hersteller in Niedersachsen will Abhilfe schaffen - hat sich dafür aber selbst mit dem russischen Staat eingelassen.

Von Göran Theo Ladewig, NDR

Im Kern geht es um einfache Geometrie: vier Ecken oder sechs. Atomkraftwerke in Westeuropa arbeiten mit viereckigen Brennelementen, viele in Osteuropa benötigen sechseckige. Dieser Bautyp stammt noch aus Sowjet-Zeiten. Die betroffenen Kraftwerke in Bulgarien, Tschechien, Ungarn, der Slowakei, aber auch Finnland beziehen ihre Brennelemente ganz überwiegend aus Russland. Doch davon sollen sie unabhängiger werden. Das fordert die EU-Agentur ESA schon seit einigen Jahren.

Niedersächsische Brennelemente für Osteuropa

Das französische Unternehmen Framatome will osteuropäischen Kraftwerksbetreibern nun helfen und sie mit sechseckigen Brennelementen versorgen. Dafür hat es sein Tochterunternehmen Advanced Nuclear Fuels (ANF) mit Sitz im niedersächsischen Lingen auserkoren. Der Standort sei dafür prädestiniert, so ANF-Geschäftsführer Andreas Hoff, weil er in seiner Geschichte bereits "Brennelemente nach den unterschiedlichsten Designs" gefertigt habe. In Lingen werden seit fast 50 Jahren Brennelemente produziert - bisher aber ausschließlich für westeuropäische Atomkraftwerke.

Das Know-how, wie sechseckige Brennelemente zu produzieren sind, holt sich das Unternehmen aus Russland. Dazu kooperiert der Mutterkonzern Framatome mit dem russischen Staatskonzern Rosatom. Der ist an einem Joint Venture mit 25 Prozent beteiligt. Rosatom stellt mehrere Maschinen her, die Lizenzen zur Produktion und Wissen. Die Maschinen stehen in einer Halle in Lingen schon bereit, etwa einen Kilometer vom Werksgelände entfernt. ANF rechnet damit, ab Ende 2025 für Osteuropa produzieren zu können.

Spionage durch russische Atomexperten?

Im April dieses Jahres haben Rosatom-Mitarbeiter in der Halle ihren deutschen Kollegen gezeigt, wie die Maschinen funktionieren. Fraglich, ob das der letzte Kontakt dieser Art war. Atomkraftgegner befürchten, dass bei solchen Treffen auch sensible Informationen ausgetauscht werden. So könnten die Russen in Erfahrung bringen, wie westeuropäische Atomkraftwerke funktionieren, glaubt Alexander Vent vom "Bündnis Atomkraftgegner:innen im Emsland". Ihr Ziel sei Sabotage. Schließlich sei es die Strategie des Kremls, die westliche Energieinfrastruktur zu beeinflussen.

Der Konzern Framatome bezieht zu kritischen Aspekten kaum öffentlich Stellung. Im Mai dieses Jahres versuchte er die Sorgen mit dem Argument zu zerstreuen, russische Atomexperten seien niemals auf das Werksgelände gekommen und würden das auch in Zukunft nicht tun.

Dieser Umstand ist es auch, der der Atomaufsicht die Hände gebunden hat. Solange keine Russen das Werksgelände betreten und in der separaten Halle nur Versuche ohne radioaktives Material durchgeführt werden, sind die Aktivitäten nicht genehmigungspflichtig. Das ist zumindest die bisherige Rechtsauffassung des niedersächsischen Umweltministeriums.

Schauen die Behörden weg?

Aus dem Ministerium in Hannover hieß es im Mai 2024, man habe die Sicherheitsbehörden von Land und Bund über die Schulungen informiert. Die scheinen aber wenig unternommen zu haben, um die russischen Mitarbeiter zu überprüfen. Das zeigen Antworten auf Anfragen des NDR. Das Bundeskriminalamt hielt sich nicht für zuständig. Das Bundesinnenministerium verwies auf das Bundesumweltministerium, welches wiederum auf das niedersächsische Umweltministerium zeigte. Ein geschlossener Kreis. Das Innenministerium in Hannover sowie Verfassungsschutz und Landes- und Bundesebene hielten sich allgemein: Man sensibilisiere Unternehmen für die Gefahr auf Industriespionage und warte auf ihre Hinweise.

Die Bundestagsabgeordnete Filiz Polat (Grüne) mit Wahlkreis unweit der Brennelementefabrik hält diese Strategie für einen Fehler. Die Sicherheitsbehörden hätten das Ausmaß der Gefahr nicht wirklich im Blick. Die Schwachstelle im System sei die Annahme, die Fabrik wolle sich vor Industriespionage schützen. Dass sie daran aber selbst ein Interesse haben könnte, weil ein russischer Staatskonzern sich dort eingekauft hat, habe der Gesetzgeber nicht bedacht.

Vorhaben muss noch genehmigt werden

Zumindest Niedersachsens Umweltminister Christian Meyer (Grüne) kann man nicht vorwerfen, er ignoriere die mögliche Gefahr. Meyer äußert sich immer wieder kritisch zu dem Vorhaben des Unternehmens und argumentiert dabei ganz ähnlich wie die Atomkraftgegner. Sein Ministerium müsste am Ende die Produktion sechseckiger Brennelemente in Niedersachsen genehmigen. Allerdings ist dies keine politische Entscheidung. Um das neue Geschäftsmodell zu verbieten, müsste das Ministerium handfeste Bedenken zur Sicherheit Deutschlands gültig machen.

Dabei sind solche Bedenken von berufener Stelle untermauert. In einem Gutachten für die Bundesregierung warnt der Atomrechtler Gerhard Roller vor der Gefahr, dass ein ausländischer Staatskonzern Zugriff auf sensible Infrastruktur bekommen und damit Einfluss auf den Atomsektor nehmen könnte.

Das Gutachten wird dieser Tage sicher eine Rolle spielen. Das niedersächsische Umweltministerium hat für diesen Mittwoch in eine große Halle in Lingen zum Erörterungstermin geladen. Unternehmen, Bürger, Atomkraftgegner und Ministerien sollen dort ihre Sicht der Dinge darstellen. Die Argumente will das Umweltministerium in seine Entscheidung einfließen lassen, so ein Sprecher. Wann es die trifft, sei aber noch völlig unklar.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 20. November 2024 um 11:36 Uhr.