Dubiose Geschäfte Pflegebedürftige in der Abo-Falle
Pflegebedürftige haben Anspruch auf bestimmte Verbrauchsartikel, die Pflegekasse zahlt bis zu 40 Euro im Monat dazu. Diese Regelung ruft fragwürdige Geschäftemacher auf den Plan.
Am frühen Morgen klingelt Achim Wierschems Telefon. "Der Anrufer stellte sich als Mitarbeiter der Pflegestelle des Bundes vor und sagte mir, dass mir als Pflegebedürftigem Pflegehilfsmittel im Wert von 40 Euro pro Monat zustehen", berichtet er. Das hört der ehemalige Musiker, der seit einer schweren Erkrankung mit Pflegegrad 3 schwerbehindert ist, zum ersten Mal. Noch gar nicht richtig wach, lässt er sich nach kurzem Gespräch auf ein Pflegeboxen-Abo ein.
Doch schon kurz darauf bereut er diese Entscheidung. "Ich wusste sofort, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Mein Körper ist zwar schwach, aber mein Kopf funktioniert noch", sagt Wierschem rückblickend. Der Anrufer habe alle seine Daten gehabt, von der Adresse bis zum Geburtsdatum. Er versucht die Nummer des Anrufers zurückzurufen, ohne Erfolg. Er googelt die Nummer schließlich und stößt auf zahlreiche Warnungen. Ihm wird klar: Das war auf keinen Fall eine Pflegestelle des Bundes, die ihn angerufen hatte. Doch wer war es dann? Und woher hat der Anrufer seine Daten?
Schwäche der Pflegebedürftigen wird ausgenutzt
Wierschem informiert seine Pflegekasse, bittet sie, keine Zahlungen zu übernehmen. Doch ein paar Wochen später erhält er ein Willkommensschreiben des Anbieters Helpbox24, die erste Pflegebox sei auf dem Weg zu ihm. Er kündigt sofort bei Helpbox24, trotzdem erhält er eine Box. Er verweigert die Annahme. So geht es vier Monate weiter. Erst als er mit einem Anwalt droht, hören die Lieferungen auf.
Achim Wierschem ist kein Einzelfall. Seit Anfang des Jahres gehen bei den Verbraucherzentralen regelmäßig Beschwerden über sogenannte Pflegeboxen-Anbieter ein. Die Pflegekassen sind überfordert: "Es sind Tausende von Fällen, die wir mittlerweile verzeichnen", berichtet Kai Behrens, Pressesprecher des AOK-Bundesverbands.
Die Beschwerden sind vielfältig. Zahlreiche Pflegebedürftige und Angehörige berichten, dass sich die Anbieter von Pflegeboxen als Mitarbeiter der Pflegekassen ausgeben. Andere klagen über gefälschte Unterschriften. Wieder andere über Kündigungsschreiben, die unbeantwortet bleiben. Hier trifft es die Schwächsten. Um gegen die Anbieter von Pflegeboxen vorgehen zu können, müssten die Pflegebedürftigen nachweisen, was am Telefon gesagt wurde. Das mache die Sache für die Pflegekassen so schwierig, so Kai Behrens.
Die Firma, die hinter Helpbox24 steht, heißt MEXO Medien Expert. Auf Anfrage des ARD-Wirtschaftsmagazins Plusminus erklärt sie, die Telefongespräche mit Pflegebedürftigen würden "eigenverantwortlich durch Kooperationspartner" geführt, und weiter: "MEXO legt dabei besonderen Wert darauf, dass Beratungsgespräche und generell Kontaktaufnahmen gesetzeskonform geschehen." Dazu müssten sich die Partnerunternehmen von MEXO auch verpflichten. Daher könne man die Anschuldigungen der Betroffenen "nahezu ausschließen". Kündigungen würden ordnungsgemäß umgesetzt.
"Viel zu viel für tatsächlichen Bedarf"
Pflegebedürftige können ihre Pflegehilfsmittel zum Verbrauch im Sanitätshaus, in der Apotheke oder Drogerie kaufen und dann mit der Pflegeversicherung abrechnen. Eine weitere Möglichkeit ist ein Pflegeboxen-Abo. Der Spitzenverband der Pflegekassen (GVK) schließt dafür Verträge mit Leistungserbringern ab. Pflegebedürftige oder ihre Angehörigen können bei ihnen die Hilfsmittel beantragen. Die Abrechnung erfolgt direkt zwischen den Leistungserbringern und der jeweiligen Pflegekasse. So müssen sich die Pflegebedürftigen nicht selbst um die Abrechnung kümmern. Pflegeboxen, wie sie außer von Helpbox24 auch noch von zahlreichen weiteren Anbietern vertrieben werden, sollen so eigentlich den Alltag von Pflegebedürftigen erleichtern.
Doch die Praxis sieht oft anders aus. Diana Hauck, Diplompflegepädagogin an der Uniklinik Mainz, schaute sich mehrere solcher Boxen für Plusminus an. Ihr Fazit: "Die Produkte sind zwar qualitativ in Ordnung, aber die Menge und Zusammensetzung werfen Fragen auf. Beispielsweise erhält man in einer Box 100 Schutzschürzen für den Monat - viel zu viel für den tatsächlichen Bedarf." Schutzschürzen finden Verwendung, wenn Angehörige den Pflegebedürftigen duschen wollen. Bei 100 solcher Schürzen müsste der Pflegebedürftige wohl dreimal täglich geduscht werden. Eine weitere Kritik: Würde man die Artikel in Online-Sanitätshäusern einzeln kaufen, wären Einsparungen möglich.
Doch stattdessen explodieren die Kosten: Seit 2018 haben sich die Ausgaben für Pflegehilfsmittel zum Verbrauch um 140 Prozent erhöht. In der Hochphase der Corona-Pandemie lag der monatliche Erstattungsbetrag für Pflegehilfsmittel bei 60 Euro, was zu einem deutlichen Anstieg der Ausgaben führte. Bezahlt werden diese Kosten von allen Versicherten, die in die Pflegekasse einzahlen.
Neue Regeln sollen Missbrauch eindämmen
Der GKV-Spitzenverband hat auf den Missbrauch reagiert und neue Regelungen erlassen. Seit 1. Juli 2024 dürfen Pflegebedürftige nicht mehr proaktiv von Anbietern kontaktiert werden. Doch die Verbraucherzentralen berichten weiterhin von Anrufen. Um die neuen Vorschriften zu umgehen, setzten einige Anbieter Bandansagen ein, bei denen Kunden selbst aktiv werden müssen.
"Das ist ein klarer Versuch, die neuen Regelungen zu umgehen", sagt Dorle Martischewsky vom Verbraucherzentrale Bundesverband. Es sei ein schwieriger Kampf gegen fragwürdige Geschäftemacher, die von den Regelungen zum Vorteil der Pflegebedürftigen profitieren. "Pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen müssen besser geschützt werden", fordert Martischewsky. Es bleibt abzuwarten, ob die neuen Regelungen ausreichen, um den Missbrauch durch Pflegebox-Anbieter langfristig einzudämmen.