Folgen des Ruhestands Mental fitter durch spätere Rente?
Ein hohes Renteneintrittsalter lehnen viele Menschen ab. Dabei warnt der Wissenschaftler Hendrik Schmitz im Gespräch mit tagesschau.de, Ruhestand könne den geistigen Abbau beschleunigen.
tagesschau.de: Nach einem langen Berufsleben freut sich so gut wie jeder auf den wohlverdienten Ruhestand. Doch der hat ihrer Studie zufolge auch seine Kehrseiten. Welche sind das und wie beeinflussen sie unsere geistige Fitness?
Hendrik Schmitz: Mit mehr Freizeit steigt unsere Lebenszufriedenheit, wenn wir in Rente gehen. Aber was wir festgestellt haben, ist ein geistiger Abbau, der durch den Ruhestand beschleunigt wird.
Dafür kann es mehrere Ursachen geben. Die wesentliche ist die sogenannte "Use it or lose it"-Hypothese: Das Gehirn ist in gewisser Weise wie ein Muskel, der stimuliert und gefordert werden muss. Wenn wir aus dem Arbeitsleben ausscheiden, haben wir deutlich weniger geistige Herausforderungen als vorher. Ein weiterer Grund kann der Verlust sozialer Kontakte sein.
Ein schleichender Prozess
tagesschau.de: Wie genau sieht dieser geistige Abbau aus, wenn wir in Rente gehen?
Hendrik Schmitz: In dem von uns ausgewerteten Worterinnerungstest für kognitive Fähigkeiten erinnern sich die Menschen über einen Zeitraum von zehn Jahren an ein Wort weniger aufgrund des Alterns und ein zusätzliches Wort weniger aufgrund des Ruhestands.
Die Wirkung des Ruhestands auf das Gedächtnisvermögen entspricht etwa der altersbedingten Verschlechterung, die im Durchschnitt zwischen dem 60. und 70. Lebensjahr auftritt.
tagesschau.de: Wenn Sie sich die Ergebnisse anschauen: Gibt es Unterschiede zwischen den Personen?
Hendrik Schmitz: Es gibt einen Unterschied zwischen Rentnern und Frührentnern. Ein 70-Jähriger, der mit 60 Jahren in Rente gegangen ist, hat demnach doppelt so viel eingebüßt, wie ein 70-Jähriger, der sehr lange gearbeitet hat. Anders ausgedrückt: Der normale kognitive Abbau, den Menschen innerhalb von zehn Jahren erfahren, verdoppelt sich durch die Verrentung noch einmal.
Mit einem Renteneintrittsalter von 63 Jahren ändert sich die kognitive Leistungsfähigkeit im ersten Jahr vielleicht nicht, bis der schleichende Prozess beginnt. Diejenigen, die mit 67 Jahren in Rente gehen - etwa weil sie gerne arbeiten -, erfahren unmittelbar mit Renteneintritt einen Einbruch dieser Fähigkeiten. Wir führen das darauf zurück, dass diese Personen oft in geistig anspruchsvolleren Berufen tätig sind als diejenigen, die mit 63 glücklich in Rente gegangen sind.
- Der Ruhestand dürfte bei den meisten Menschen zu einer schnelleren kognitiven Alterung führen, weil geistige Beanspruchung, Anerkennung und soziale Kontakte wegfallen.
- Nach einer plötzlichen Verschlechterung des körperlichen Zustands nehmen die kognitiven Fähigkeiten älterer Menschen ebenfalls deutlich und anhaltend ab.
"Der späte Renteneintritt hat einen schlechten Ruf"
tagesschau.de: Ist ein gesellschaftliches Umdenken notwendig, und sollten wir nun alle länger arbeiten?
Hendrik Schmitz: Niemand fordert, dass Menschen aufgrund ihrer geistigen Fähigkeiten jetzt bis zum 80. Lebensjahr arbeiten sollen. Der späte Renteneintritt hat durchweg einen schlechten Ruf. Wir möchten darauf hinweisen, dass es in Bezug auf die mentale Fitness grundsätzlich für alle Menschen besser ist, etwas länger zu arbeiten. Früher oder später gehen wir alle in Rente, was auch gut so ist.
Später in Rente wegen Fachkräftemangel?
tagesschau.de: Der Fachkräftemangel ist angesichts der demografischen Entwicklung eine der zentralen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte. Welches Renteneintrittsalter können wir uns in Deutschland wirklich leisten?
Hendrik Schmitz: In Deutschland gehen wir im Durchschnitt später in den Ruhestand als in vielen anderen europäischen Ländern, insbesondere haben wir bereits ein vergleichsweise hohes gesetzliches Renteneintrittsalter. Wir haben auch eine relativ hohe Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmer. Trotzdem denke ich, dass es noch Potenzial für mehr gibt - nicht nur für die Nachhaltigkeit des Rentensystems, sondern auch um den Fachkräftemangel zu überwinden.
Derzeit sinkt die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter jährlich um etwa eine halbe Million Menschen (netto). Wir haben eine Nettozuwanderung von etwa 300.000 bis 400.000 Menschen. Hier klafft immer noch eine Lücke, schließlich brauchen wir diese Arbeitskräfte. Wir sollten auch stärker dafür sorgen, dass ältere Arbeitslose wieder einen Berufseinstieg schaffen und ältere Arbeitnehmer besser im Betrieb eingesetzt werden.
"Nicht zwangsläufig die Frührente"
tagesschau.de: Was können wir tun, um nicht nur gut durch den Arbeitsalltag, sondern auch gut in den Ruhestand zu kommen?
Hendrik Schmitz: Grundsätzlich sollten wir uns immer weiterbilden und uns gegebenenfalls bei gesundheitlichen Problemen beruflich umorientieren. Der Weg muss nicht zwangsläufig die Frührente sein, wenn man mit Mitte 50 als Pfleger einfach nicht mehr kann.
Das ist natürlich leichter gesagt als getan, und das liegt nicht immer in der Hand des Einzelnen, aber darauf sollten wir als Gesellschaft achten und Alternativen aufzeigen.
Das Interview führte Aylin Dülger, tagesschau.de.